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Vaduz 2013

Referate

Ausgewählte Reden und Zusammenfassungen aller Impulsreferate der beiden Konferenztage sind untenstehend aufgeführt. Bei Abweichungen vom Manuskript gilt das gesprochene Wort.

Ansprache Landammann Alex Hürzeler in der Fürstlichen Hofkellerei vom 10. Oktober 2013

Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Herr Regierungschef-Stellvertreter
Sehr geehrte Frau Ministerin
Sehr geehrte Frau Bundesministerin
Sehr geehrter Herr Regierungsrat
Sehr geehrte Frau Grossratspräsidentin
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident
Sehr geehrte Abgeordnete
Sehr geehrte Herren Professoren
Verehrte Damen und Herren

Gestatten Sie auch mir, sehr geehrte Damen und Herren, Sie alle im Namen des Regierungsrats des Kantons Aargau an der gemeinsam durch das Bundeskanzleramt Österreich, das Fürstentum Liechtenstein und den Kanton Aargau organisierten Demokratiekonferenz begrüssen zu dürfen. Dem Fürstentum Liechtenstein möchte ich herzlich für die Übernahme der Rolle als Gastgeber danken. Was ich bisher davon geniessen durfte – das Ambiente in der Fürstlichen Hofkellerei sowie das Abendessen – gefällt mir ausgezeichnet.

Der Wunsch nach direkter Mitbestimmung durch die Bürgerinnen und Bürger erlebt derzeit, mindestens in Europa, Hochkonjunktur (vielleicht kommt dieser Wunsch alsbald auch in den USA deutlich stärker auf als auch schon…). Dies spüren wir ganz konkret bei den Kontakten zu unseren Nachbarn insbesondere im deutschsprachigen Raum. Woher kommt dieses Verlangen nach vermehrtem Einbezug? Zum einen hat dies wohl mit der Tendenz zur Übertragung von Entscheidungskompetenzen an höhere Ebenen zu tun. Dies kann dazu beitragen, dass unsere Bevölkerungen das Gefühl beschleicht, die wichtigen Entscheidungen würden immer weiter entfernt von ihr gefällt. Zum andern ist eine Erosion der klassischen Parteibindungen zu beobachten. Die Bürgerinnen und Bürger nehmen für sich immer stärker in Anspruch, eigenständige Meinungen zu bestimmten Sachfragen zu bilden. Unter diesen Umständen reicht es den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr, einfach alle vier Jahre eine Partei zu wählen.

Wie können wir diesen - aus meiner schweizerischen Sicht - berechtigten Rufen nach mehr Mitbestimmung gerecht werden? Während die Idee der vollkommenen direkten Demokratie theoretisch einleuchtend erscheint, sind ihre Praktikabilitätsmängel in der Realität unübersehbar. Verglichen mit anderen Ländern sind wir in der Schweiz dieser Idealvorstellung jedoch mit am nächsten gekommen. Das Volk hat sowohl auf Bundesebene als insbesondere auch auf Kantons- und Kommunalebene bei praktisch allen wichtigen Entscheidungen ein automatisches oder mindestens ein optionales Mitspracherecht. Ich bin überzeugt, dass gerade diese demokratischen Rechte (Gemeindeversammlungen, Initiativen, Referenden) über die vorhandenen Sprach- und Kulturgrenzen hinweg einen massgeblichen Teil zur gesamtschweizerischen Iden-tität beitragen.

Es ist deshalb kein Zufall, dass sich der Kanton Aargau als Teil dieses Schweizer Systems bereits zum dritten Mal als Partner an einer internationalen Konferenz beteiligt, welche sich dem Austausch und der Weiterentwicklung unserer Demokratien hin zu mehr Bürgernähe verschreibt. Wir, aber auch unsere liechtensteinischen Nachbarn, können in Bezug auf die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in den politischen Entscheidungsprozess mit viel Erfahrung aufwarten. Andererseits dient uns der Austausch mit Vertreterinnen und Vertreter anderen demokratischer Regierungssysteme zur Selbstreflexion. Sind unsere Instrumente und deren Ausgestaltung immer noch geeignet, um die damit anvisierten Ziele zu erreichen? Gibt es Verfahren, die der Anpassung bedürfen, damit sie im heutigen Kontext noch ihren Zweck erfüllen können?

Dass wir uns diese Fragen auf Kantons- und nicht nur auf Bundesebene stellen, ist nicht vermessen, sondern durchaus berechtigt. Denn die Kantone besitzen in Bezug auf die Ausgestaltung der politischen Rechte eine recht grosse Handlungsfreiheit innerhalb des schweizerischen Bundestaats. In der Geschichte der Entwicklung der direkten Demokratie der Schweiz haben und spielen die Kantone seit jeher eine wichtige Rolle. Das fakultative Referendum beispielsweise wurde erst nach Bewährung in den Kantonen auf Bundesebene übernommen. Auch heute gewähren die Kantonsverfassungen ihren Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern eine weitergehende politische Mitbestimmung als dies auf Bundesebene der Fall ist. Am bedeutendsten ist dabei wohl das Finanzreferendum, welches neue, öffentliche Ausgaben ab einer be-stimmten Höhe der Volksabstimmung unterstellt. Dieses Instrument gibt dem Volk eines der effektivsten Rechte zur Kontrolle von Regierung und Parlament in die Hand – nämlich das Veto gegen öffentliche Ausgaben. Sie sehen, die direkte Demokratie wird in den Schweizer Kantonen sehr aktiv gelebt. Dies ist umso bedeutender, als die Kantone innerhalb des schweizerischen Föderalismus nach wie vor gewichtige eigene Kompetenzen besitzen, darunter insbesondere das Recht zur Erhebung von Steuern.

Nebst diesen föderalistischen Aspekten gibt es meines Erachtens noch eine Reihe weiterer Voraussetzungen für den erfolgreichen Miteinbezug des Schweizer Stimmvolks in die politischen Entscheide. Erstens leben wir dem Grundsatz nach, dass die Hürden zur Ergreifung der Volksrechte sowie zur Herbeiführung einer Entscheidung über den Inhalt eines Begehrens möglichst tief sein sollen. Dies ist eine Absage an jegliche Quoren. Eine gültig zustande gekommene Initiative beziehungsweise Referendum führt denn auch mit wenigen Ausnahmen zwingend zu einer Volksabstimmung und kann nicht aus politischen Gründen von Regierung oder Parlament ausgebremst werden. Durch den relativ einfachen Zugang zu den Instrumenten der direkten Demokratie ist es folglich nicht nur den grossen Parteien vorbehalten, erfolgversprechende Begehren zu lancieren. Immer wieder haben kleinere Gruppierungen oder gar Einzelinitianten bewiesen, dass sie – wenn auch unter grossem persönlichem Einsatz – in der Lage sind, eine Initiative oder ein Referendum zustande zu bringen. Zweitens und nicht minder wichtig ist die Verbindlichkeit des Ausgangs der Volksabstimmung. Volksentscheide sind für Regierung und Parlament bindend. Durch die nicht allzu hohen Hürden und die in der Konsequenz verbind-lichen Volksentscheide besitzen die Schweizer Bürgerinnen und Bürger ein effektives Instrument zur Mitsprache und Mitbestimmung.

Es ist unsere Erfahrung und meine persönliche Überzeugung, dass das Volk mit dieser "Macht" verantwortungsvoll und umsichtig umgeht – vielleicht eben gerade, weil man ihm ein so wirkungsvolles Recht in die Hand gibt und nicht versucht, es mit ein paar eng begrenzten oder unverbindlichen Mitwirkungsmöglichkeiten abzuspeisen.

In diesem Sinne kann ich nur allen Gemeinwesen raten, sich in Rich-tung eines direkten und ernst gemeinten Einbezugs der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Prozesse zu bewegen. Eine höhere politische Legitimation als einen Volksentscheid gibt es m.E. nicht. Ein wunderbares Beispiel dazu stammt aus meiner ersten Amtsperiode als Aargauer Bildungsdirektor. Obwohl das Parlament im Sommer 2010 einem sogenannten "Jahrhundertkredit" von immerhin 190 Mio. Franken für den Campus-Neubau der FHNW praktisch einstimmig zugestimmt hatte (1 Gegenstimme), ergriff innerhalb der 3-monatigen Referendumsfrist ein einzelner Stimmbürger (…"zufälligerweise" war er der damalige Lie-genschaftsvermieter für die FH) das Referendum und sammelte die benötigten 3'000 Unterschriften. So kam es im Frühling 2011 zu einer kantonalen Volksabstimmung. Das Abstimmungsergebnis war sensationell, die Zustimmung fiel mit rund 80 % weit überdurchschnittlich aus.

Wenn die Ergreifung des schlussendlich chancenlosen Referendums zwar auch eine Baustartverzögerung von einem halben Jahr bedeutete, eine bessere (Volks)-Legitimation – und für ein derartiges Grossprojekt kann man sich gar nicht wünschen und so gesehen kann diesem einzelnen Stimmbürger im Nachhinein eigentlich nur gedankt werden.

Und ein Dank gilt auch Ihnen, geschätzte Anwesende , für ihr Engagement und ihren Beitrag zur Festigung und wo nötig Weiterentwicklung unserer/ihrer Demokratien. Ich freue mich auf weitere interessante Tischgespräche sowie auf den morgigen Konferenztag.

Ansprache Landammann Alex Hürzeler vom 11. Oktober 2013

Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident
Sehr geehrte Frau Grossratspräsidentin
Sehr geehrte Abgeordnete
Sehr geehrter Herr Regierungssekretär
Sehr geehrter Herr Sektionschef
Sehr geehrter Herr Staatsschreiber
Sehr geehrte Herren Professoren
Sehr geehrter Herr Ministerialrat
Verehrte Damen und Herren

Ich freue mich ausserordentlich, dass mir nach gestern Abend die Ehre nun bereits zum zweiten Mal zuteilwird, Sie alle im Namen des Regierungsrats des Kantons Aargau zur liechtensteinischösterreichisch-aargauischen Demokratiekonferenz begrüssen zu dürfen.

Ganz herzlich möchte ich mich bei der Landesregierung des Fürstentums Liechtenstein für die Gastfreundschaft bedanken. Getreu dem Konferenzmotto haben wir bereits gestern Abend den gegenseitigen Blick über die Grenzen gewagt und die Diskussion zu den Entwicklungen der Demokratien im jeweiligen Nachbarland lanciert.

Nun, geschätzte Konferenzteilnehmende und Gäste, bei den Diskussionen und Vergleichen unserer politischen Systeme geht es nicht darum, die Überlegenheit einer demokratischen Staatsform gegenüber einer anderen hervorzuheben. Es geht um die Frage, welche Elemente einer (direkten) Demokratie dem Wohl der Bürgerinnen und Bürger im jeweiligen Kontext am besten dienen? Auch auf diese Frage gibt es selbstverständlich keine abschliessende Antwort. Dennoch möchte ich einige Merkmale beleuchten, welche meiner Meinung nach eine gewachsene (direkte) Demokratie ausmachen.

Erfolgreiche gewachsene Demokratien sind selbstbewusst – sie sind aber auch streitbar und tolerant. Einerseits manifestiert sich dieses Merkmal in der grundsätzlichen Überzeugung der Bevölkerung und deren Vertretung auf Parlaments- und Regierungsebene, dass die gewählte Staatsform und die daraus fliessenden politischen Rechte und Pflichten, die das Zusammenleben in der Demokratie regeln, die richtigen seien. Diese Überzeugung wird – selbstverständlich in gut schweizerischer Zurückhaltung - auch mit Stolz nach aussen getragen, denn sie wirkt identitätsstiftend und trägt zum Verantwortungsbewusstsein einer Bevölkerung für das Gemeinwohl bei. Eine Demokratie ist aber besonders dann selbstbewusst, wenn sie Kritik - komme diese von innen oder von aussen - zulässt und, besser noch, fördert, indem sie entsprechende Instrumente oder Gefässe zur Verfügung stellt und damit das demokratische System kontinuierlich weiterentwickelt.

Jede noch so gute und durchdachte Politik kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie von den Bürgerinnen und Bürger verstanden, akzeptiert und mitgetragen wird und - die Kritik der Bürgerinnen und Bürger ernsthaft aufgenommen wird. Denn die "Politik und Verwaltung" darf nie vergessen, dass sie nicht zu ihrer selbst, sondern im Auftrag von eben diesen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern tätig ist und für diese eine ganze Reihe von wichtigen und gewichtigen Fragen des Zusammenlebens zu deren Wohl zu regeln hat. Wir haben die Menschen ernst zu nehmen, will heissen, nicht nur zuhören und an den Schreibtisch zurückkehren und trotzdem machen, was wir für richtig erachten. Wir müssen das Recht auf Mitsprache auch tatsächlich anerkennen. Dies bedeutet für uns in der Schweiz konkret, dass wir unsere Bürgerinnen und Bürger am Ende des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses mit ihrer Stimme an der Urne über das Vorhaben entscheiden lassen. Die Verbindlichkeit der Resultate von Volksabstimmungen ist eines der grundlegenden Prinzipien der schweizerischen direkten Demokratie. Nur konsultative Abstimmungen wären in der Schweiz undenkbar. Dasselbe gilt für Beteiligungsquoren.

Ein Gefäss zur Auseinandersetzung mit unseren Demokratien ist auch die heutige Demokratiekonferenz. Wir alle in diesem Saal gehören selbstbewussten Demokratien an. Wohl gerade deshalb sind wir bereit und interessiert, eine gemeinsame Demokratiekonferenz durchzuführen, und damit unsere Form der Demokratie von unseren Nachbarn kritisch analysieren zu lassen.

Eine grundsätzliche Diskussion, welche unser schweizerisches direktdemokratisches System heute herausfordert, ist jene über das Verhältnis der Volkssouveränität zu übergeordnetem (Völker-)Recht. Ausgelöst durch die Lancierung und die Annahme einiger umstrittener Volksinitiativen beschäftigt dieses Thema zurzeit den politischen wie auch wissenschaftlichen Demokratiediskurs in der Schweiz. Die grenzüberschreitende, heutige Auseinandersetzung zu diesem ersten Konferenzthema wird sicherlich auch die Debatte in der Schweiz bereichern.

Die kritische Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger mit unserem direkt-demokratischen System findet heute immer häufiger über neue Informationstechnologien statt. Der Einbezug dieser neuen Technologien im politischen Beteiligungsprozess bringt neue Chancen aber auch Herausforderungen – um nicht Gefahren zu sagen - mit sich. Die Aargauer Regierung befasst sich seit längerem mit diesen Entwicklungen im Bereich "e-Democracy", also der Möglichkeit der Bürgerbeteiligung über das Internet. Der Kanton Aargau gehört vor allem im Bereich des e-Voting – der elektronischen Stimmabgabe – zu den Pionieren in der Schweiz, vorderhand begrenzt auf die Auslandschweizer. Die Frage, welche Auswirkung dieser tiefgreifende technische Wandel in demokratischen Systemen mit sich bringt, müssen wir uns laufend stellen. Wo liegen Potenzial und Möglichkeiten, aber auch die Herausforderungen und Risiken von E-Democracy. Mit diesen Fragen werden sie sich im Rahmen des zweiten Themenblocks heute Nachmittag auseinandersetzen.

Wissenschaftliche Unterstützung bei der Umsetzung seiner E-Voting-Projekte erhält der Kanton Aargau durch das Zentrum für Demokratie Aarau ZDA, welches durch die Universität Zürich, den Kanton Aargau und die Stadt Aarau getragen wird. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen dem ZDA, aber auch dem Liechtenstein-Institut und der Uni Graz, für die wissenschaftliche Begleitung der Demokratiekonferenz in Vaduz herzlich zu danken. Als Aargauer Bildungsminister bin ich stolz darauf, das wichtigste Forschungszentrum der Schweiz für Fragen der direkten Demokratie in unserer Kantonshauptstadt Aarau zu haben.

Abschliessend danke ich meinerseits und im Namen der Aargauer Regierung allen, die sich bei der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz engagiert haben. Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche und vor allem lehr- und hilfreiche Demokratietagung.

Zusammenfassung der Referate

Hier finden Sie die Zusammenfassungen der Impulsreferate der beiden Konferenztage.