Referate der Demokratiekonferenz in Stuttgart
Die verfügbaren Reden und Referate der Demokratiekonferenz vom 20. und 21. Juni 2013 sind untenstehend aufgeführt. Bei Abweichungen vom Manuskript gilt das gesprochene Wort.
Reden und Referate der Konferenz
Eröffnungsrede des 1. Konferenztags von Regierungsrätin Susanne Hochuli
Eröffnungsrede des 1. Konferenztags von Regierungsrätin Susanne Hochuli
Es gilt das gesprochene Wort:
Ich freue mich ausserordentlich, dass mir die Ehre nun bereits zum zweiten Mal zuteilwird, Sie alle im Namen des Regierungsrats des Kantons Aargau zur aargauisch-baden-württembergischen Demokratiekonferenz begrüssen zu dürfen. Ganz herzlich möchte ich mich bei Ministerpräsident Kretschmann und dem Land Baden-Württemberg für die Gastfreundschaft in diesem ehrwürdigen Gebäude bedanken.
Basierend auf den historischen Banden, welche den Kanton Aargau und das Land Baden-Württemberg verbinden, hat in den letzten Jahren nicht zuletzt wegen der Zusammenarbeit im Bereich der direkten Demokratie eine Intensivierung unserer grenzüberschreitenden Beziehungen stattgefunden. Und ich erachte eine starke Partnerschaft zwischen unseren beiden Regierungen als absolut notwendig. Angesichts der zunehmenden Verflechtung nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der gesellschaftlichen Beziehungen sehen wir uns beide mit ganz ähnlichen Phänomenen konfrontiert. Auch aufgrund der steigenden grenzüberschreitenden Interdependenzen im politischen Handeln verspricht in vielen Fällen nur ein koordiniertes und gemeinsames Vorgehen ein wirkungsvolles Angehen dieser Herausforderungen. Natürlich bleiben wir dabei immer noch autonome politische Einheiten mit ganz eigenen Interessen, für die jeder Partner auch ein Recht hat einzustehen. Sind diese Ziele gegensätzlich, kann es auch unter guten Freunden zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Dies ist jedoch nicht ein Zeichen abnehmender Zuneigung, sondern ein ganz normaler Aspekt einer ehrlichen und offenen Beziehung. Umso wichtiger sind Projekte wie die Demokratiekonferenz, die ein Gefäss schaffen zum gegenseitigen Kennenlernen, Austauschen und zum Aufbau von Vertrauen. Wenn wir dieses Fundament weiter aufbauen und verfestigen, bin ich überzeugt, dass wir noch so manche zukünftige Herausforderung gemeinsam erfolgreich meistern werden.
Ich habe mich nicht nur wegen der engen Freundschaft zwischen dem Aargau und Baden-Württemberg sehr gefreut, heute nach Stuttgart zu reisen, sondern auch weil mir das Thema direkte Demokratie sehr am Herzen liegt. Ich persönlich bin überzeugt, dass jede noch so gute und durchdachte Politik ihre Wirkung nur entfalten kann, wenn sie von unseren Bürgerinnen und Bürger verstanden, akzeptiert und mitgetragen wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir von ihnen beauftragt sind, eine ganze Reihe von wichtigen Fragen des Zusammenlebens zu ihrem Wohl zu regeln. Deshalb müssen wir unsere Vorhaben zur Diskussion stellen, sie dem Test der öffentlichen Arena unterziehen, in den Dialog mit der Bevölkerung treten, erklären, zuhören und sich dafür Zeit nehmen. Und nun kommt das Zentrale: wir müssen diese Menschen ernst nehmen, will heissen, ihnen nicht nur zuhören und an den Schreibtisch zurückkehren und trotzdem machen, was wir für richtig erachten. Wir müssen ihr Recht auf Mitsprache auch tatsächlich anerkennen. Dies kann für uns Schweizer eigentlich nur heissen, dass wir unsere Bürgerinnen und Bürger am Ende des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses mit ihrer Stimme an der Urne über das Vorhaben entscheiden lassen. Selbstverständlich schliesst dies den früheren Einbezug bestimmter Gruppierungen oder der allgemeinen Öffentlichkeit in den Entscheidungsprozess nicht aus. Dieser kann jedoch aus meiner Sicht die Volksabstimmung nicht ersetzen. Denn wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern versprechen, dass sie sich an der politischen Entscheidfindung beteiligen können und wir ihre Anliegen ernst nehmen, dann muss dieser Einbezug mit einem für die Politik verbindlichen Resultat enden. Die Verbindlichkeit der Resultate von Volksabstimmungen ist eines der grundlegenden Prinzipien der schweizerischen direkten Demokratie. Konsultative Abstimmungen wären in der Schweiz undenkbar. Dasselbe gilt für Beteiligungsquoren.
Obwohl auch mich die zuweilen mässige Stimmbeteiligung in der Schweiz nachdenklich stimmt, akzeptieren wir den Entscheid, welcher die Mehrheit der Stimmenden fällt. Es ist ein unverfälschtes Resultat, da diejenigen, die zu Hause bleiben, dies mutmasslich aus einer gewissen Indifferenz tun und nicht etwa, um die Erreichung eines Beteiligungsquorums zu torpedieren. Auch bei der Anzahl Unterschriften, welche gesammelt werden müssen, um eine Volksabstimmung herbeizuführen, leben wir dem Grundsatz nach, dass der Zugang zu direkt-demokratischen Instrumente für die Bürgerinnen und Bürgern möglichst tief sein muss. Indem wir die Hürden für Volksentscheide tief halten und jedes Abstimmungsresultat die Politikerinnen und Politiker bindet, spürt die Bevölkerung, dass ihre Mitsprache tatsächlich willkommen ist. Das schweizerische System schenkt dem Bürger das Vertrauen, über wichtige politische Fragen zu entscheiden. Und siehe da, die Angst vor dem Volksentscheid, die andernorts manchmal herrscht, ist unbegründet: Die Bürgerinnen und Bürger beweisen in zahlreichen Entscheiden immer wieder staatsbürgerliche Verantwortung und sind sehr wohl in der Lage, die Maximierung ihres Eigennutzens auch einmal hinter das Allgemeinwohl zu stellen wie diverse Beispiele immer wieder zeigen.
Ich freue mich sehr, dass an der heute und morgen hier stattfindenden Demokratiekonferenz nun die Gelegenheit besteht, unsere Auffassungen von der besten Ausgestaltung unserer Demokratien auszutauschen. Ein Blick auf das Programm des heutigen Konferenztags verspricht eine spannende Tour durch zentrale Fragestellungen direkt-demokratischer Systeme und partizipativer Verfahren. Aus Schweizer Sicht verspricht zunächst vor allem das erste Panel einen Erkenntnisgewinn. In vielen Belangen haben nämlich in Bezug auf die Ausgestaltung von informellen Bürgerbeteiligungsverfahren unsere deutschen Nachbarn die Nase vorn. Für uns Schweizer gilt indes wie bereits erwähnt, dass eine verbindliche Volksabstimmung durch keine andere Form der Partizipation substituierbar ist. Ich bin gespannt, was die deutschen Referentinnen und Referenten dazu zu sagen haben. Auch die Themen Partizipation, insbesondere die Höhe der Stimmbeteiligung, sowie Fragen der Transparenz sind von hoher Aktualität in der Schweiz und versprechen eine interessante und sicherlich teilweise kontroverse Diskussion in den Workshops. Neu ins Konferenzprogramm aufgenommen wurde dieses Jahr der Themenkomplex "e-Democracy", also der Möglichkeit der Bürgerbeteiligung über das Internet. Der Kanton Aargau hat hier vor allem im Bereich des e-Voting – der elektronischen Stimmabgabe – erste Erfahrungen gesammelt, die wir gerne mit interessierten Teilnehmenden aus Deutschland teilen. Unser Kanton hat selbstverständlich auch einen Facebook-Account und ich selber bin überzeugte Twittererin. Natürlich nutzen auch das Land Baden-Württemberg und seine Politikerinnen und Politiker die Kanäle der Social Media, um mit der Online-Community innerhalb der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Ich habe auch das baden-württembergische Online-Beteiligungsportal entdeckt, welches Sie eigens dafür eingerichtet haben, den Bürgerinnen und Bürgern Informationen über neue Vorhaben der Regierung zukommen zu lassen sowie ihnen auf ganz unbürokratische Weise Gehör zu verschaffen. Dies ist ein Zeichen dafür, wie ernst es der aktuellen Regierung mit dem Einbezug der Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger in die politischen Entscheide ist.
Nun möchte ich aber die Bühne frei machen für die Einleitungsreferate, welche die Brücke zur letzten Konferenz in Aarau schlagen, die seither stattgefundenen Entwicklungen zusammenfassen sowie einen Überblick über die Herausbildung unserer beiden Demokratien geben werden.
Ich bedanke mich im Namen des Regierungsrats des Kantons Aargau bei Ihnen allen dafür, dass Sie sich heute und morgen die Zeit nehmen, um über all diese Fragen nachzudenken. Sie tragen damit dazu bei, dass wir die Art und Weise unserer politischen Entscheidfindung hinterfragen und weiter entwickeln können. Ich wünsche Ihnen zwei erfolgreiche und spannende Konferenztage.
Staatsschreiber Dr. Peter Grünenfelder über Aktuelle Demokratiefragen
Staatsschreiber Dr. Peter Grünenfelder über Aktuelle Demokratiefragen
Es gilt das gesprochene Wort:
Es freut mich ausserordentlich, dass wir uns ein Jahr nach der Demokratiekonferenz in Aarau hier in Stuttgart eingefunden haben, um erneut einen lernenden Blick über die Rheingrenze zu werfen und uns gegenseitig von den Demokratieentwicklungen in unseren Regionen inspirieren zu lassen. Notwendige Bedingung für das gegenseitige Lernen über die Grenze sind undogmatisches Denken und Kreativität. Die gegenseitigen Erfahrungen stellen sicher, dass Demokratie in Bewegung bleibt – zugleich sind sie Quellen der Inspiration zur Weiterentwicklung unserer direktdemokratischen Instrumente. Es gehört zu den Stärken der Schweizer Demokratie, dass wir unser System permanent hinterfragen, kritisch überprüfen und stets mit neuen Vorschlägen, sowohl auf Bundes- wie auf Kantonsebene, herausgefordert werden.
Zwar sind Bund, Kantone und Gemeinden in der Schweiz nach allgemeiner Lesart bemüht, dem Volk wirksame und verbindliche Instrumente in die Hand zu geben, um ihm ein weitgehendes Mitsprachrecht zu gewähren. Die direkte Demokratie in der Schweiz steht jedoch auch vor Herausforderungen, die den öffentlichen, politischen wie auch wissenschaftlichen Diskurs in den letzten 12 Monaten prägten. Ich möchte im Folgenden vier Themenbereiche aufgreifen, welche darlegen, dass die Schweizer Demokratie ständig in Bewegung ist:
- Direkte Demokratie und "Volkssouveränität" im Spannungsfeld zum übergeordneten Recht
- Direkte Demokratie und Transparenz
- Direkte Demokratie und Ausmass der vom Volk selbst gewünschten Mitbestimmung
- Direkte Demokratie und elektronische Mitbestimmung
1. Direkte Demokratie und "Volkssouveränität" im Spannungsfeld zum übergeordneten Recht
Jede Rechtsordnung steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zum übergeordneten Recht. Direkte Demokratie kann dieses Spannungsverhältnis akzentuieren, indem vom Volk genehmigtes Recht aufgrund übergeordneten Rechts über gerichtliche Mechanismen beschränkt oder gar aufgehoben wird. Dies hat in der Schweiz in den vergangenen Jahren, insbesondere jedoch auch im letzten Jahr, zu Diskussionen über das Verhältnis zwischen dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip geführt. Einige Volksinitiativen nahmen eine mögliche Verletzung von völkerrechtlichen Pflichten bewusst in Kauf. Ihre Befürworter argumentieren, dass direktdemokratisch legitimierte Volksentscheide internationalen Verträgen vorgehen sollten und letztere notfalls zu kündigen seien. Auf der anderen Seite wird die Ansicht vertreten, dass rechtsstaatliche Garantien und Menschenrechte nicht durch einfache Mehrheitsentscheide aufgehoben werden können. Es stellt sich hier die Frage nach den Schranken der Volksrechte.
Exemplarisch zeigt sich dieses Spannungsverhältnis am Beispiel der Umsetzung der sogenannten Ausschaffungsinitiative. Bei der vom Volk 2010 gutgeheissenen Initiative geht es im Kern um die Frage, ob Ausländer künftig bei gewissen Delikten automatisch ausgeschafft werden. Heute nehmen die Gerichte jeweils eine Interessenabwägung vor. In den nächsten Monaten muss der Bundesrat im Rahmen der Umsetzung der Initiative einen Entscheid fällen, der beinahe die Quadratur des Kreises bedeutet. Falls der Bundesrat – und anschliessend das Parlament – nahe beim Wortlaut der Initiative bleiben, droht eine Kollision mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Falls das Völkerrecht besser berücksichtigt wird, sind die Urheber der Initiative unzufrieden. Mitten in diese Auseinandersetzung platzte im Februar diesen Jahres ein Entscheid des Bundesgerichts. Zwar hält das Gericht fest, dass es die Gewaltenteilung respektiere. Trotzdem steckte das Gericht faktisch eine rote Linie ab, die das Parlament bei der Umsetzung der Initiative aus seiner Sicht nicht überschreiten darf. So hat nach dem Schweizer Bundesgericht das Völkerrecht Vorrang vor der Bundesverfassung – und damit auch vor der Ausschaffungsinitiative: Dies sagte das Bundesgericht in seinem neuen Entscheid im Februar 2013, der von den Kritikern denn auch sogleich als höchstrichterliche Entmachtung von Volk und Parlament interpretiert wurde. Das Urteil ist als Fingerzeig ans Schweizerische Parlament zu werten. Die Frage ist, wie das Bundesgericht in einem Anwendungsfall urteilte, wenn das Parlament Landesrecht über Völkerrecht stellen würde. Würde es sich weigern, einem gegen das Völkerrecht verstossenden Bundesgesetz die Anwendung zu versagen? Definitiv beantworten die Richter diese Frage nicht. Ihr Urteil zeigt jedoch in aller Deutlichkeit das heikle Spannungsfeld zwischen direkter Demokratie und übergeordnetem Recht auf. Um diesem Spannungsfeld zwischen Völkerrecht und Landesrecht wirksam zu begegnen, hat im März 2013 der Schweizerische Bundesrat ein Vernehmlassungsverfahren zu einer Verfassungs- und einer Gesetzesänderunggestartet, mit dem verschiedene Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Völkerrecht und Landesrecht vorgeschlagen werden. Vorgeschlagen wird einerseits eine nicht bindende materielle Vorprüfung von Volksinitiativen; andererseits sollen mit einer Änderung der Schweizer Bundesverfassung die grundrechtlichen Kerngehalte als zusätzliche Schranke für Verfassungsrevisionen funktionieren. Da die Vernehmlassung noch bis Ende dieses Monats läuft, wären Aussagen zum heutigen Zeitpunkt vermessen, welche Lösung die Bundesversammlung und letztlich das Schweizer Volk befürworten werden.
Aber deutlich ist, dass sich beim Themenbereich "Volkssouveränität" im Spannungsfeld zum übergeordneten Recht in der Schweiz einiges bewegt. Trotz dieser zahlreichen möglichen Konflikte zwischen demokratischer Entscheidfindung und übergeordnetem Recht wird aber auch deutlich, dass direkte Demokratie gleichzeitig auch für die höhere Staatsebenen befruchtend wirken kann.
2. Direkte Demokratie und Transparenz
Mit Erstaunen stellen in- und ausländische Experten immer wieder fest, dass es im Musterland der direkten Demokratie keine Regeln zur Finanzierung von politischen Parteien, von Wahlen und von Abstimmungen gibt. In der Schweiz sind politische Parteien nicht staatlich finanziert, sondern zivilgesellschaftliche, weitgehend nach dem Milizprinzip operierende Vereine.. Partei- und Kampagnenspenden können in der Schweiz generell in beliebiger Höhe und anonym erfolgen - sei es für eine Partei, für Kandidierende bei einer Wahl oder ein Komitee bei einer Abstimmung.
Die Kritik an dieser Regelung ist in den letzten Jahren, insbesondere auch im letzten Jahr, sowohl im In- wie auch im Ausland immer lauter geworden. Der Europarat hat in seinem Länderbericht der Schweiz empfohlen, die Finanzierung der politischen Parteien und Wahlkampagnen gesetzlich zu regeln. Dass der Bericht von der Europarats-Staatengruppe gegen Korruption (Greco) verfasst wurde, fördert nicht unbedingt die sachliche Diskussion innerhalb der Schweiz. Der Schweizer Bundesrat wird in diesen Tagen seine Erläuterungen zu den Empfehlungen des Europarats verabschieden; vorgängig wurde im April aber eine Greco-Delegation in die Schweiz eingeladen, der unsere demokratischen Ausprägungen hinlänglich erläutert wurden. .
Die Anliegen des Europarats sowie weiterer in- und ausländischer Kritiker haben in der Schweiz zwar eine Debatte ausgelöst und einige Untersuchungen eingeleitet. Bei vielen Behörden, den meisten Parteien sowie der Bevölkerung stossen die Anliegen jedoch auf Indifferenz oder gar Ablehnung. Im Kanton Baselland wurde denn auch eine Volksinitiative der Jungsozialisten am 9. Juni 2013 mit 36'625 Nein gegenüber 27'890 Ja klar abgelehnt. Damit bleiben Genf und Tessin die einzigen Kantone mit einer gesetzlichen Offenlegungspflicht für Parteispenden. Zur Parteienfinanzierung ist derzeit auf Bundesebene eine parlamentarische Initiative des Schaffhauser Ständerats Thomas Minder hängig.
Die Ausgestaltung der Parteienfinanzierung in der Schweiz liegt stark im politischen System der Schweiz begründet. Drei Wesensmerkmale unseres politischen Systems erschweren die Einführung von Transparenzregeln. Erstens die direkte Demokratie per se, die es schwierig machen würde, nur die Wahlen und nicht die Abstimmungen solchen Transparenzregelungen zu unterstellen. Aufgrund der häufigen Abstimmungen sind auf der politischen Bühne nicht nur Parteien, sondern zahlreiche andere Akteure tätig. Anwendbare Transparenz-Regelungen für alle diese verschiedenen Akteure würden – so die Kritiker an einem umfassenden Transparenzausweis – einen grossen und kostenintensiven Aufwand verursachen. Zweitens haben in der föderalistisch organisierten Schweiz die Kantone eine grosse Autonomie. Ihnen allen eine unterschiedslose Regelung zur Kontrolle und Beschränkung der Finanzierung von Parteien aufzuerlegen, würde sich wohl mit der Tradition unseres Landes nicht vertragen. Eine Regelung ausschliesslich für Aktivitäten auf nationaler Ebene wäre zudem unvollständig und ineffizient. Für eine umfassende Regelung wiederum wäre eine Verfassungsänderung unumgänglich. Drittens bringt es die private Verantwortung in diesem Bereich mit sich, dass sich die politischen Parteien hauptsächlich aus privaten Zuwendungen finanzieren. Dieses private Engagement hat in der Schweiz eine grosse Bedeutung. Das politische System basiert weitgehend auf privatem Engagement, der so genannten Milizarbeit. Der Berufs-Teil der Parteien, und damit deren Finanzbedarf, sind damit bedeutend kleiner als bei Parteien in anderen Ländern.
Transparenz-Regelungen haben aus genannten Gründen keine Tradition in der Schweiz. Die demokratische Diskussion über die Transparenz-Frage wird jedoch auch in den kommenden Jahren weitergeführt werden (müssen).
3. Direkte Demokratie und Ausmass der vom Volk selbst gewünschten Mitbestimmung
Eine Volksinitiative, die ebenfalls vorletzten Sonntag, am 9. Juni 2013 zur Abstimmung kam, zeigt auch, dass die Diskussion in der Schweiz über das Ausmass der Mitwirkungsrechte durch das Volk in Bewegung ist. Die Initiative „Volkswahl des Bundesrats“ wollte, dass die Schweizer Bundesregierung neu vom Volk gewählt wird und nicht mehr durch das Bundesparlament. Die Initianten argumentierten mit einer Erweiterung der Volksrechte und mit der Stärkung der direkten Demokratie. Daneben seien mit der Wahl durch das Volk die einzelnen Mitglieder des Bundesrats direkt den Stimmbürgern verpflichtet. Eine Volkswahl bedeute eine bessere Kontrolle der Macht. Das System der direkten Volkswahl habe sich zudem auf Ebene der Kantonsregierungen sehr bewährt.
Gegner der Initiative, allen voran der Bundesrat und die Mehrheit des Schweizer Parlaments, lehnten die Initiative dezidiert ab. Dazu zwei Sätze aus dem Abstimmungsbüchlein: „Die Initiative würde es schwieriger machen, die Schweiz gut zu regieren. Die Mitglieder des Bundesrates müssten sich neben ihrer eigentlichen Tätigkeit ständig auch um ihre Wiederwahl bemühen.“ Die Initiative wurde am 9. Juni 2013 vom Schweizer Volk wuchtig mit mehr als 75% der Stimmen und in allen 26 Kantonen abgelehnt. Damit bleibt es beim seit der Gründung des Bundesstaates 1848 festgesetzten Wahlmodus.
Offensichtlich vermag damit die Schweizer Bevölkerung zu differenzieren zwischen einem möglichen Ausbau an Mitbestimmung und bewährten demokratischen Entscheidungskompetenzen durch das Parlament, aber auch zwischen einem bewährten Wahlsystem auf kommunaler und kantonaler Ebene gegenüber einem als offensichtlich ebenfalls als geeignet empfundenen Wahlsystem auf Bundesebene .
4. Direkte Demokratie und elektronische Mitbestimmung
In den letzten Jahren hat die Informations- und Kommunikationstechnologie rasante Entwicklungen erfahren. Auch staatliche und politische Institutionen sind davon beeinflusst: Behörden von Bund, Kantonen und Gemeinden, Politiker und Parteien benutzen immer öfter das Internet, um Informationen direkt und auf einfachem Weg in die Öffentlichkeit zu bringen.
Aus diesem Grund haben sich in den vergangenen Jahren die schweizerischen Eidgenossenschaft, aber auch verschieden Kantone, dafür entschieden, die Ausübung politischer Rechte zusätzlich über elektronische Verfahren zu ermöglichen, um der Demokratie neue Chancen eröffnen. Dabei steht aktuell insbesondere die Ermöglichung des Abstimmens per Internet, das sogenannten E-Voting, im Vordergrund. Die Ermöglichung des Abstimmens per Internet ist unter anderem auch mit der Hoffnung verbunden, die Stimmbeteiligung – vor allem auch jüngerer Sichten – zu erhöhen.
Nach einer ersten Etappe mit Pilotversuchen in verschiedenen Kantonen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Bund durchgeführt wurden, hat sich der Bundesrat im Jahre 2006 für eine Einführung von E-Voting in Etappen ausgesprochen. Mittlerweile sind mehr als die Hälfte aller 26 Kantone in der einen oder anderen Form in Projekten zur elektronischen Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger involviert. Vor einer Woche, an seiner Sitzung vom 14. Juni 2013, hat der Bundesrat einen Bericht zu E-Voting zuhanden des eidgenössischen Parlaments verabschiedet, welcher u.a. die Grundlagen für die flächendeckende Ausdehnung der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz legt.
Der Kanton Aargau führt seit 2010 Versuche mit E-Voting für seine Auslandschweizer Stimmberechtigten durch. Das Angebot zur elektronischen Stimmabgabe über das Internet wurde jeweils durch etwa 50 Prozent der stimmenden Auslandschweizer genutzt. Aufgrund des bisher erfolgreichen Verlaufs des Vorhabens soll im Aargau eine Ausweitung der E-Voting-Versuche auf einzelne Pilotgemeinden im Kanton Aargau beantragt werden. Diese Pilot-Urnengänge sollen ab dem Jahr 2014 beginnen und Erkenntnisse über eine in einem Mittelfristhorizont weitere Ausbreitung des Angebots elektronischer Wahlen und Abstimmungen für die Bürger des Kantons Aargau bringen.
Bei der Berücksichtigung digitaler Technologien im direktdemokratischen Beteiligungsprozess stehen wir erst am Anfang. Viele Fragen sind noch ungeklärt. Wo liegen Potential und Möglichkeiten, aber auch die Herausforderungen und Risiken von E-Democracy bei den laufenden Versuchen mit dem Wählen und Abstimmen per Internet? Führt die Anwendung von digitalen Technologien in der Politik zu demokratischer Erneuerung? Wie weit verbreitet ist aktuell deren Gebrauch und wer wendet diese Technologien an? Wie interagieren sie mit älteren Formen direkter Demokratie und mit welchen Effekten? Diese Fragen werden derzeit auch durch ein gross angelegtes interkantonales Projekt unter Leitung des Kantons Aargau zusammen mit dem Zentrum für Demokratie analysiert.
Wie einleitend skizziert, gibt die direkte Demokratie in der Schweiz den Bürgerinnen und Bürger wirkungsvolle Instrumente zur aktiven Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess in die Hand – und das ist auch gut so. Die aktuellsten Entwicklungen der letzten Jahre, und gerade auch des vergangenen Jahres, zeigen jedoch auch die Herausforderungen dieses Systems auf. Wir stellen uns diesen Herausforderungen – auch im Gespräch und Austausch mit Ihnen.
Herzlichen Dank.
Rede am Abendanlass von Regierungsrat Urs Hofmann
Rede am Abendanlass von Regierungsrat Urs Hofmann
Es gilt das gesprochene Wort:
Im Namen des Regierungsrats des Kantons Aargau als Co-Organisator der Demokratiekonferenz hier in Stuttgart begrüsse ich Sie zum Abschluss des ersten Konferenztags zum Abendanlass im Neuen Schloss. Der Baden-Württembergischen Landesregierung danke ich herzlich für die Gastfreundschaft an diesem imposanten Ort.
Auf den ersten Blick erscheint mir als republikanischem Schweizer die Durchführung einer Demokratiekonferenz in einem Schloss natürlich als Widerspruch. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass sich dieses eher monarchisch angehauchte Umfeld für die Auseinandersetzung mit der Demokratie nichtsdestotrotz eignet. Gebaut mit der Absicht, Stuttgart zu einem zweiten Versailles zu machen, und bewohnt von den Königen Württembergs, ist es zwar unbestritten ein Symbol monarchischer Herrschaft. Die Zerstörung des Schlosses am Ende des Zweiten Weltkriegs versinnbildlicht jedoch auch den Untergang nichtdemokratischer Herrschaftsformen in Deutschland. Mit dem Einzug der Ministerien der demokratisch gewählten Regierungen Baden-Württembergs hat die Demokratie dann endgültig Besitz von diesen Mauern ergriffen.
Auch unser Kanton ist - manchen von Ihnen ist dies bestens bekannt - reich an Schlössern, welche nicht nur von Demokraten bewohnt wurden. Ja, wir haben auch Schlösser, die Sinnbild für unsere gemeinsame Geschichte sind – das wohl symbolträchtigste ist die im Aargau stehende Habsburg, die Stammburg des gleichnamigen Herrschergeschlechts, deren Reich sowohl Teile Baden-Württembergs als auch des Aargaus umspannte. Auf die Zeit grosser Herrschaftsräume folgten Perioden der Abgrenzung und der Überhöhung der Nationalstaaten. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich jedoch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen über die Grenzen hinweg mit zunehmender Geschwindigkeit intensiviert – dies gilt auch für die bilateralen Beziehungen zwischen Aarau und Stuttgart.
Mit der Durchführung der zweiten Demokratiekonferenz hier in Stuttgart wollen wir die auf unserer Geschichte basierenden demokratischen Entwicklungen beleuchten und gestützt auf die reichhaltigen Erfahrungen der Vergangenheit gemeinsam an der demokratischen Zukunft bauen. Ein wichtiger Treiber der Zusammenarbeit ist unser gegenseitiges Interesse an einer Stärkung der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess. Die deutsche Sicht auf die Dinge mag vielleicht teilweise eine andere sein – gerade der Austausch über diese unterschiedlichen Herangehensweisen ist jedoch die Essenz der gemeinsam organisierten Konferenz. Das System der direkten Demokratie im Aargau resp. der Schweiz ist denn auch nicht nur Eigengewächs. Es wurde immer wieder auch durch Inspirationen von aussen weiterentwickelt.
Unsere Demokratiekonferenz soll morgen in einer öffentlichen Publikumsdebatte enden – und das ist gut so. Nichts ist für eine Demokratie – und ganz besonders für eine direkte Demokratie – so wichtig wie die öffentliche Debatte. In seinem kürzlich erschienenen Essay über den Wandel der modernen Demokratien definiert der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch die Demokratie idealtypisch als Herrschaftsform, die voraussetzt, „dass sich eine sehr grosse Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt [...], dass diese Menschen ein gewisses Mass an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.“
Diese Feststellung könnte auch aus einem Schulbuch zu den Grundlagen der direkten Demokratie in der Schweiz stammen. Angesichts des gesellschaftlichen Wandels der Gegenwart stellt sich jedoch je länger desto mehr die Frage, ob bzw. wie oft dieses Idealbild in der Realität noch anzutreffen ist. Dabei spielen insbesondere auch die Veränderungen unserer heutigen Informationsgesellschaft eine zentrale Rolle. Politikvermittlung bzw. Politikkommunikation sieht 2013 nun mal anders aus als in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich - via Fernsehen massgeblich auch durch die deutsche Politik - politisiert wurde.
Die Aargauer Regierung befasst sich intensiv mit diesen neuen Entwicklungen. Im Herbst 2011 hat der Regierungsrat eine Social-Media-Strategie verabschiedet und damit den Weg geebnet, um die neuen Kommunikationskanäle zu erschliessen. Die sozialen Medien ermöglichen u.a. den Ausbau der direkten Kommunikation des Kantons mit den Bürgerinnen und Bürgern. Diese neuen digitalen Technologien beeinflussen jedoch nicht bloss die professionelle Politikkommunikation, sondern unsere direkte Demokratie auf allen Ebenen und in all ihren Erscheinungsformen – Wahlen, Abstimmungen, Initiativen, Kampagnen etc. Die Frage des Einflusses der neuen Technologien auf die Instrumente der direkten Demokratie und auf neue Formen der Politkommunikation ist eines der zentralen Themen der Konferenz. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg, bin gespannt auf die Resultate und auch die allfällige grenzüberschreitende Aufstockung ihrer Facebook-Freundesliste oder Twitter-Followers.
Trotz aller Möglichkeiten der digitalen Kommunikation bevorzuge ich persönlich noch immer den direkten persönlichen Kontakt mit der Bevölkerung. Auch in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ist dieser persönliche Kontakt von zentraler Bedeutung. Diesen pflegen der Aargau und Baden-Württemberg seit vielen Jahrzehnten, seit zwei Jahren jedoch besonders intensiv. Dabei spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Und weil wir uns am selben Tisch gegenüber sitzen und nicht nur via Twitter, Facebook oder Chatroom unterhalten, wissen wir, dass wir beidseits des Rheins vieles bestens können - ausser Hochdeutsch.
Ich danke allen, die sich bei der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz engagiert haben. Heute wünsche ich Ihnen noch einen gemütlichen Abend und morgen einen interessanten zweiten Konferenztag. Ich erhebe das Glas auf unsere Demokratie für die und vor allem mit den Bürgerinnen und Bürgern.
Eröffnungsrede des 2. Konferenztags von Grossratspräsidentin Vreni Friker
Eröffnungsrede des 2. Konferenztags von Grossratspräsidentin Vreni Friker
Es gilt das gesprochene Wort:
Im Namen des Aargauischen Grossen Rats, der Aargauer Legislative, heisse ich Sie zum zweiten Konferenztag herzlich willkommen und bedanke mich bei dieser Gelegenheit herzlich für die hervorragende Organisation, die spannenden Diskurse und für die Gastfreundschaft. Es freut mich ganz besonders, bereits wenige Wochen nach meinem Amtsantritt als Grossratspräsidentin das Rednerpult mit meinem baden-württembergischen Amtskollegen, Herrn Landtagspräsident Guido Wolf, teilen zu können und gemeinsam mit Ihnen, liebe Nachbarn, über die demokratischen Entwicklungen auf beide Seiten des Rheins zu debattieren.
"Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden." Mit diesem Zitat des griechischen Philosophen Sokrates habe ich vor wenigen Wochen die zweite Sitzung der neuen Legislatur des Grossen Rates eröffnet. Wer nichts dazu lernt, wer sich nicht weiterentwickelt, bleibt stehen. Das gilt auch in Bezug auf die Demokratie. Eine erfolgreiche Demokratie ist eine Demokratie, die lebendig ist und die immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Es erscheint mir also mehr als passend auch diese Ansprache mit den Worten von Sokrates zu eröffnen.
Mit der Entwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz und dem damit einhergehenden systematischen Ausbau der Volksrechte der Bürgerinnen und Bürger hat sich auch die Rolle des Parlaments auf nationaler sowie auf kantonaler Ebene verändert. Historisch gesehen wurden die Volksrechte im Verhältnis zum Parlament seit der Gründung des schweizerischen Bundesstaats stetig ausgebaut. Vor knapp 2 Wochen haben die Schweizer Wählerinnen und Wähler sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob sie den Bundesrat, das heisst die schweizerische Landesregierung, zukünftig selbst wählen wollen oder ob dies dem nationalen Parlament weiterhin überlassen werden sollte. Sie haben das Resultat sehr wahrscheinlich mitbekommen: das Stimmvolk hat einen weiteren Ausbau seiner Volksrechte in der Form der Volkswahl des Bundesrates abgelehnt und damit die Arbeit des Parlaments bestätigt.
Das Schweizer Stimmvolk ist in unserer direkten Demokratie der unbestrittene Souverän. Wie ich soeben erläutert habe, stimmt das Stimmvolk auch immer wieder über seine eigenen direkt-demokratischen Rechte in diesem System ab. Mit den Instrumenten des fakultativen Gesetzesreferendums und des Initiativrechts verfügt es über gewichtige Instrumente zur Kontrolle des Parlamentes von unten.
Was bedeutet dieses Machtverhältnis also für die Schweizer Parlamente? Ist das Parlament machtlos dem Diktat des Volkes ausgeliefert?
Ob auf kommunaler, kantonaler oder nationaler Ebene: die Aufgabe des Parlamentes ist es, im Interesse seiner Bevölkerung zu legiferieren. Die Möglichkeit eines Referendums zwingt die Volksvertreterinnen und Volksvertreter stärker als in rein repräsentativen Demokratien dazu, Kompromisse einzugehen und kreative Lösungen zu finden. Bei der Ausarbeitung von Beschlüssen und von Gesetzen sind die Interessen des Stimmvolks zu berücksichtigen und deren Anliegen in den politischen Prozess einzubinden. Dies geschieht in Form von Anhörungen und Vernehmlassungen, die der parlamentarischen Arbeit vorgelagert sind und dazu dienen, die Positionen der verschiedenen Interessens- und Bevölkerungsgruppen zu sondieren. Ob es dem Parlament schlussendlich gelingt, einen breit abgestützten Konsens zu finden und im Interesse der Wähler zu arbeiten, entscheidet letztlich das Volk, indem es auf sein Referendumsrecht verzichtet und damit sein Einverständnis mit den Entscheidungen des Parlaments signalisiert.
Im Kanton Aargau hat das Stimmvolk zwischen 1971 - 2010 bei insgesamt 181 durchgeführten obligatorischen Referenden in 87% der Fälle die Entscheidungen des Aargauischen Grossen Rats gutgeheissen und unterstützt. Dieses Glanzresultat widerspricht der überspitzten Theorie der Tyrannei des Volkes und der Ohnmacht des Parlaments in einer direkten Demokratie. Auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene folgt das Stimmvolk häufig den Abstimmungsempfehlungen der Parlamente und bestätigt damit die wichtige und wegweisende Rolle derselben.
Dieses Resultat beruht unter anderem auch auf dem Umstand, dass die Schweizer Parlamente Milizorgane sind und sich in ihren Reihen eine Vielfalt an Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten wiederfinden. Die Bedürfnisse der Bevölkerung, der eigentlichen Opposition des Parlaments in einer direkten Demokratie, fliessen mittels Milizsystem automatisch und direkt in die Verhandlungen ein. Die Parlamente sind somit volksnah und wissen ganz genau, wo der Schuh drückt. Dieser Umstand stärkt die Parlamente und stärkt auch die direkte Demokratie. Ohne Milizparlament würden wir mit erheblich mehr Referenden und Volksinitiativen konfrontiert werden, davon bin ich überzeugt.
Ich bin eine überzeugte Verfechterin dieses Zusammenspiels zwischen repräsentativer und direkter Demokratie und auch stolz darauf. Aber in Anlehnung an die Worte von Sokrates, erkenne ich selbstverständlich auch, dass diese Form der Demokratie Herausforderungen mit sich bringt. So kann das Referendumsrecht des Volkes wie ein Damoklesschwert über den Parlamenten hängen und bewirken, dass auf radikale und innovative Entscheide verzichtet wird. Wichtige und notwendige Reformen können teilweise blockiert werden.
Doch das System der direkten Demokratie in der Schweiz kennt neben dem bremsenden Element des Referendums auch ein beschleunigendes Element. Mittels Volksinitiative können Interessensgruppen, Parteien und sogar Einzelpersonen die politische Agenda beeinflussen und das Parlament zur Lösungsfindung vernachlässigter Anliegen drängen. Das Parlament hat das Recht, einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative auszuarbeiten und diesen zusammen mit der Volksinitiative dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Im Kanton Aargau hat der Grossrat in den Jahren 1971 – 2010 bei vier Volksinitiativen einen eigenen Gegenvorschlag ausgearbeitet. In allen vier Fällen bevorzugten die Aargauischen Wählerinnen und Wähler den Vorschlag des Parlaments, was die Bedeutung der Parlamente in einer direkten Demokratie wiederum unterstreicht.
Mit diesem letzten Gedanken möchte ich auf das Thema des nachfolgenden Panels überleiten. Eines der häufigsten Argumente gegen den Ausbau der Volksrechte ist die Unterstellung, das Stimmvolk sei von der Komplexität von gewissen Sachentscheidungen vielfach überfordert und sei demnach nicht in der Lage die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dieses Argument wird auch häufig gegen die Beibehaltung des Milizparlaments und für die Einführung eines Berufsparlaments gebraucht. Nun, kaum jemand bestreitet, dass die Vorlagen immer komplexer werden und die Parlamentarierinnen sich immer schneller in ein Thema einlesen müssen.
Dennoch kann die Expertise, welche Parlamentarier aus ihren diversen Berufen einbringen gerade im Gesetzgebungsprozess eine Bereicherung sein. Und schliesslich stehen die Parlamentarier auch nicht alleine da; die wichtige Aufgabe des Ausformulierens der Gesetze übernimmt die Verwaltung, welche Fachleute in den verschiedenen Themengebieten stellt, die ja auch in einem System mit Berufsparlament eine gewichtige Rolle einnehmen. Wenn auch die Bedeutung der Verwaltung in einem Milizsystem grösser sein mag, kann meines Erachtens die geringere Diskrepanz zwischen Milizparlament und Volk gar nicht genügend hoch geachtet werden. Denn sie garantiert – gemeinsam mit den direktdemokratischen Instrumenten –, dass das Parlament tatsächlich jene Aufgabe wahrnimmt, welche ihm eigentlich zukommt: Die Vertretung des Volkswillens im Gesetzgebungsprozess.
Ich bedanke mich für ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen erfolgreiche Diskussionen.
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