INV-LEN903A Villa Schützenmattstrasse 1, 1902-1903 (Dossier (Bauinventar))

Archive plan context


Ansichtsbild:
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Identifikation

Signatur:INV-LEN903A
Signatur Archivplan:LEN903A
Titel:Villa Schützenmattstrasse 1
Bezirk:Lenzburg
Gemeinde:Lenzburg
Ortsteil / Weiler / Flurname:Schützenmattstrasse
Adresse:Schützenmattstrasse 1
Versicherungs-Nr.:94
Parzellen-Nr.:1909
Koordinate E:2656099
Koordinate N:1248910

Chronologie

Entstehungszeitraum:1902 - 1903
Grundlage Datierung:Brandkataster

Typologie

Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.):Einzelobjekt
Nutzung (Stufe 1):Profane Wohnbauten
Nutzungstyp (Stufe 2):Repräsentatives Wohnhaus, Villa
Epoche / Baustil (Stufe 3):Historismus

Dokumentation

Würdigung:Stattliche Villa in Neorenaissanceformen, die 1902/03 durch den tiefgreifenden Umbau eines Vorgängerbaus aus der Zeit nach 1800 entstand. Mit seinem kompakten, leicht von der Strasse zurückversetzten Baukörper und dem umgebenden Gartengrundstück gab der im Kellerbereich und wohl auch im aufgehenden Mauerwerk noch erhaltene Vorgängerbau das Muster für die Reihe der drei um 1840 entstandenen Biedermeiervillen der sogenannten „Witwenvorstadt“ (Kantonale Denkmalschutzobjekte LEN035-037) vor. Seit dem 1902/03 für Schuhversandhändler Rudolf Hirt ausgeführten Umbau präsentiert sich das Gebäude ganz in den historistischen Formen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und besticht durch die sorgfältige Instrumentierung der Fassaden. Intakt erhalten sind auch wesentliche Teile der gepflegten Innenausstattung sowie die Gartengestaltung, die in ihrer Grunddisposition ebenfalls auf den biedermeierlichen Kernbau zurückgeht. Als Ausgangspunkt für die später realisierte Bebauung der Schützenmattstrasse kommt der Villa ein hoher Situationswert wie auch erhebliche stadtbaugeschichtliche Bedeutung zu.
Bau- und Nutzungsgeschichte:Im Kern der Villa hat sich ein Gebäude erhalten, das nach Detailformen und den Beschlägen an den Türen des vollständig erhaltenen Kellergeschosses in der Zeit nach 1800 entstanden sein könnte. Im ersten verfügbaren Brandkataster von 1829 wurde dieses Gebäude als „zweystökiges Wohnhaus mit 3 gewölbten Kellern von Stein unter einem Ziegeldach“, im Eigentum des Abraham Meyer, Amtsstatthalter, erwähnt [1]. Gemäss dem nachfolgenden Eintrag von 1850 entsprach es in Länge und Breite exakt den Abmessungen der heutigen Villa, so dass neben dem Keller wohl auch Teile des aufgehenden Mauerwerks aus dieser Zeit stammen dürften. Kurz nach 1840 erhielt der Strassenzug im Volksmund den Namen „Witwenvorstadt“, als in kurzer Folge die drei benachbarten Villen sämtlich für Witwen erbaut wurden und auch noch die Bewohnerin des hier beschriebenen Hauses verwitwete [2].
1842 ging die Liegenschaft an Alexander Hünerwadel über, der sie nach einem Konkurs 1847 wieder erwerben konnte, 1855 an Jakob Schatzmann, 1892 an Adolf Schatzmann. Bereits 1829 als bestehend vermerkt wurde ein „Holzhaus von Holz mit Ziegeldach“ (heute Vers.-Nr. 96) in denselben Abmessungen wie heute [3]. 1856 errichtete Jakob Schatzmann das bestehende Waschhaus (heute Vers.-Nr. 95). Ausserdem gehörte zur Liegenschaft gemäss Eintrag von 1900 eine später abgebrochene Scheune (Vers.-Nr. 96 ab 1899), bei der es sich nach dem Versicherungswert um ein recht stattliches Bauwerk gehandelt haben muss. Auf einem Vermessungsplan von 1881 wird die Gartenanlage entsprechend den heutigen Verhältnissen mit axialer Zufahrt verzeichnet [4].
Ihr heutiges Aussehen als Neorenaissancebau muss die Villa durch einen sehr weitgehenden Umbau erhalten haben, der nach Ausweis einer massiven Wertsteigerung des Gebäudes 1902/03 für den damals neuen Eigentümer Rudolf Hirt ausgeführt wurde [5]. Dieser betrieb mit seinem 1891 an der Rathausgasse eingerichteten Laden und einem zunächst kleinen Fabrikationslokal ein „Schuhwaren-Versandtgeschäft“ (vgl. Bilddokumentation), das offenbar so gut lief, dass er sich nicht nur den Bau der ausgesprochen stattlichen Villa, sondern wenige Jahre später auch die Expansion mit einem ansehnlichen Fabrikneubau an der Bahnhofstrasse (Bauinventarobjekt LEN924) leisten konnte [6].
Um 1950 wurde die Wohnung im ersten Obergeschoss umgebaut. 1983 erfolgte ein Ausbau des Dachgeschosses [7]. 1994 wurde im ehemaligen Villengarten entlang der Zufahrtsstrasse zum Hauptbau ein Mehrfamilienhaus nach Plänen der Architektengruppe Metron errichtet [8].
Beschreibung:Die stattliche Villa erhebt sich von der Strasse etwas abgesetzt in einem eingefriedeten, parkartigen Garten mit schönem altem Baumbestand und bildet so zusammen mit den drei um 1840 erbauten Biedermeiervillen der sogenannten „Witwenvorstadt“ (Kantonale Denkmalschutzobjekte LEN035-037) eine durchgehende Reihe. Das Gebäude entspricht in den Abmessungen und daher wohl auch im aufgehenden Mauerwerk noch dem Kernbau aus der Zeit um 1800, während Fassadengestaltung und Dach auf den Umbau von 1902/03 zurückgeht. In ihrer Situierung bildet die Villa damit den historischen Ausgangspunkt der Baugruppe; stilistisch gehört sie hingegen einer deutlich jüngeren Epoche an, indem sie seit dem tiefgreifenden Umbau von 1902/03 als einheitlicher Neorenaissancebau erscheint. Die Bauformen entsprechen dabei noch ganz dem ausgehenden 19. Jh. und sind mit dem Entstehungsjahr 1902/03 bereits vergleichsweise spät verwendet.
Der imposante, streng kubische Baukörper umfasst zwei hohe Wohngeschosse sowie ein Mezzaningeschoss und wird über einem markanten Kranzgesims von einem flach geneigten, kaum in Erscheinung tretenden, schiefergedeckten Walmdach abgeschlossen. Das Erdgeschoss ist mit einer Putzquaderung als Sockel ausgezeichnet und wird von einem Stockwerkgesims abgeschlossen; darüber ist der Mauerbau mit einem glatten Verputz versehen. Das erste Obergeschoss, das optisch bis zum Sohlbankgesimse des Mezzaningeschosses reicht, ist durch seine Höhe deutlich als Bel Etage ausgezeichnet. Es wird an den Gebäudekanten zusätzlich von einzelnen, diamantförmigen Putzquadern gefasst. Eine Zahnleiste leitet zur Dachuntersicht über, die ursprünglich mit einem wuchtigen Konsolenfries besetzt war.
Die Fassaden sind mit der Ausnahme der markanten Treppenhausfenster an der Südwestecke axialsymmetrisch durchgebildet. Die westliche Längsseite ist als repräsentative Eingangsfront zur Zufahrt gerichtet, tritt heute allerdings weniger prominent in Erscheinung. Die fünfachsig disponierten Einzelfenster werden von konsolenbesetzten Sandsteingewänden gefasst. Diese haben wie an den übrigen Fassaden im Erdgeschoss einfache Rechteckform, während sie im Obergeschoss abwechselnd von segmentbogigen und giebelförmigen Verdachungen akzentuiert werden; die kleineren Mezzaninfenster besitzen gedrungene Rechteckform. Die Mittelachse nimmt im Erdgeschoss den Hauseingang auf und wird in den beiden Obergeschossen je von einem Balkon mit markanten Konsolen und bauchigem Schmiedeeisengeländer akzentuiert. An der Südwestecke liegt in eigenwilliger Anordnung das anderthalbgeschossige, rundbogig abgeschlossene Treppenhausfenster. Der Hauseingang besitzt noch das Türblatt aus der Zeit des Umbaus, das mit segmentbogigen Verdachungen die Gestaltung der Fenstergewände wiederholt und schmiedeeiserne Vergitterungen besitzt. Die Fensterverschlüsse stammen aus dem mittleren 20. Jh.; die ursprünglichen waren in zeittypischer Weise dunkeltonig gefasst.
Ebenfalls als Schauseite konzipiert ist die vollständig axialsymmetrisch gestaltete, dreiachsige Ostfassade, die sich mit einem Mittelrisalit samt Verandavorbau zur Schützenmattstrasse wendet. Der eingeschossige, vielleicht schon ursprünglich verglaste Vorbau wird von Quadratpfeilern und toskanischen Säulen gestützt; im Obergeschoss trägt er eine Terrasse mit Schmiedeeisengeländer. Etwas einfacher gestaltet sind die beiden vierachsigen Schmalseiten nach Norden und nach Süden, letztere ebenfalls mit einem asymmetrisch angeordneten grossen Treppenhausfenster.
Das Innere war bereits nach dem Umbau von 1902/03 in zwei Geschosswohnungen getrennt; eine dritte Wohnung belegt das nachträglich ausgebaute Mezzaningeschoss. Das in der Südwestecke gelegene Treppenhaus ist im bauzeitlichen Zustand erhalten und besitzt bis zum ersten Obergeschoss Sandstein-, darüber Holzstufen sowie ein schmiedeeiserner Geländer. Die Wände zeigen brusthohe Prägetapeten (Lincrusta) und Reste einer Schablonenmalerei, der Deckenspiegel über dem ersten Treppenabsatz eine Dekorationsmalerei mit Sonne und floralen Motiven, im Unterschied zur Architektur des Gebäudes alles in Jugendstilformen. Die beiden Hauptgeschosse sind jeweils um einen zentralen Korridor mit allseitig anstossenden Zimmern organisiert. Weitgehend im Zustand von 1902/03 ist die Erdgeschosswohnung erhalten, die Feldertäfer, Stuckdecken und Tafelparkett besitzt, im repräsentativen Hauptraum mit der Veranda ein aufwendiges, architektonisch gestaltetes, wurzelholzfurniertes Neorenaissancetäfer entsprechend den Architekturformen des Äusseren. Ein weisser Kachelofen mit palmettengeschmücktem Kranz ist noch in spätklassizistischen Formen gehalten. Die Obergeschosswohnung besitzt teilweise noch Parkettböden und eine Stuckdecke analog zum Erdgeschoss; im übrigen zeigt sie heute eine Ausstattung in gepflegten Formen der Zeit um 1950 samt damaliger Küche. Unter dem Gebäude erstrecken sich mehrere ausgesprochen hohe Gewölbekeller, die vom Kernbau aus der Zeit um 1800 stammen und eine schöne Bollensteinpflästerung sowie biedermeierliche Türen samt entsprechenden Beschlägen besitzen. Das mit dem Umbau aufgerichtete Dachgerüst ist eine Pfetten-Rafenkonstruktion.
Zur Villa gehörte ursprünglich das ganze, langgestreckte Grundstück bis zur Niederlenzerstrasse, von der aus eine axiale Zufahrt zum Haus führte. Diese Grundanlage, die heute noch im unmittelbaren Umfeld des Hauses erhalten ist, dürfte ebenfalls vom biedermeierlichen Vorgängerbau stammen. Zu diesem Gebäude gehörten auch die zwei beidseits der Zufahrt angeordneten eingeschossigen Nebengebäude. Nordseitig liegt ein als Ständerbau konstruiertes Holzhaus (Vers.-Nr. 96), das in ähnlichen Abmessungen schon 1829 bestand und seine heutige Erscheinung wohl durch mehrfache Umgestaltungen im Lauf des 19. Jh. erhalten hat. Es bewahrt noch teilweise alte, handgemachte Biberschwanzziegel und wird heute als Autounterstand genutzt. Südseitig dem Holzhaus gegenüber liegt ein gemauertes Waschhaus (Vers.-Nr. 95) von 1856 mit axialsymmetrischer, dreiachsiger Trauffront. Der Garten war um 1900 im landschaftlichen Stil mit Rasenbeeten, und Schlängelwegen gestaltet. Die Mittelachse besetzt als Point-de-vue der noch erhaltene Springbrunnen. Neben dem Waschhaus steht ein schöner biedermeierlicher Brunnen aus Muschelkalk mit profiliertem Stock und kelchförmigem Becken. Mehrere Zedern und eine Blutbuche bilden eine für die Zeit um 1900 typische, üppige Bepflanzung um das Haus. Zur Schützenmattstrasse hin ist die Einfriedung aus der Zeit um 1900 erhalten, ein sorgfältig gestalteter Schmiedeeisenzaun samt Gartentor zwischen Mauerpfosten. Der westlich anschliessende Bereich des Gartens ist mit dem sorgfältigen Mehrfamilienhausneubau von 1994, der sich in der ehemaligen Zugangsachse erhebt, vollständig neu gestaltet.
Erwähnung in anderen Inventaren:- Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS), nationale Bedeutung.
- Aargauer Heimatschutz AHS / Aargauer Landschaftsarchitekten BSLA, Inventar der Historischen Gärten und Anlagen des Kantons Aargau, Stadt Lenzburg, LEN-G-024.
Anmerkungen:[1] Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938. – Vers.-Nr. vor 1899: 143 (nicht wie im Band von 1899 angegeben 43).
[2] Notizen Kunstdenkmäler-Inventarisation: Mitteilungen von Fritz Bohnenblust, Lenzburg, 6.2.1950.
[3] Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938. – Vers.-Nr. vor 1899: 143 (nicht wie im Band von 1899 angegeben 43).
[4] Garteninventar Lenzburg, LEN-G-024.
[5] Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938.
[6] Vgl. VAMUS, Art. ‚Hirt Rudolf, Schuhwarenversandtgeschäft‘; dort auch Abbildung eines Briefkopfs von 1905 mit Darstellungen des Ladenlokals, der Villa und des ersten Fabrikationsgebäudes, wohl einer umgebauten alten Scheune; zur Gründung Schweizerisches Handelsamtsblatt, 1891, H. 38, S. 152.
[7] Freundl. Mitteilung der Eigentümer (2017).
[8] Ausführliche Darstellung des Neubaus in Werk, Bauen + Wohnen, Bd. 82 (1995), H. 11, S. 18f.
Literatur:- VAMUS, Datenbank Industriekultur: http://www.vamus.ch/industriekultur/index.cfm, Art. ‚Hirt Rudolf, Schuhwarenversandtgeschäft‘ (Zugriff 20.7.2017).
Quellen:- Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938.
- Kantonale Denkmalpflege Aargau, Fotoarchiv.
- Kantonale Denkmalpflege Aargau, Kunstdenkmäler-Archiv: Notizen Kunstdenkmäler-Inventarisation, (Michael Stettler / Emil Maurer, vor 1953).
 

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URL:http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=39294
 

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