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INV-UNS929M "Mädchenheim" Stroppel, 1907 (Dossier (Bauinventar))
Ansichtsbild: |
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Chronologie |
Entstehungszeitraum: | 1907 |
Grundlage Datierung: | Brandkataster; Literatur |
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Typologie |
Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.): | Teil einer Baugruppe |
Weitere Teile der Baugruppe: | Bauten der Nähfadenfabrik Stroppel (Bauinventarobjekte UNS929A-L) |
Nutzung (Stufe 1): | Profane Wohnbauten |
Nutzungstyp (Stufe 2): | Kosthaus |
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Dokumentation |
Würdigung: | Stattliches, in zeittypischen Heimatstilformen gehaltenes Arbeiterinnenwohnhaus von 1907-09, das mit seiner raumsparenden inneren Aufteilung darauf ausgelegt war, möglichst viele Bewohnerinnen zu beherbergen und zu verköstigen. Der äusserlich unveränderte, traufbetonte Bau zeichnet sich durch eine mit zwölf Fensterachsen auf die Limmat orientierte Vorderfront aus, die mit drei Voll- und einem ausgebauten Dachgeschoss aufragt. Auf der Rückseite des langgezogenen, axialsymmetrisch konzipierten Gebäudes springt die überhöhte, unter einem Quergiebel mit Halbwalm geborgene Mittelpartie als Treppenhausrisalit vor. Das sogenannte "Mädchenheim" mit zugehörigem Waschhaus zählt zu einer Gruppe von Wohnbauten der Ausbauphase um 1910 (Bauinventarobjekte UNS929K-M), welche die bereits seit der Gründungszeit um 1870 bestehenden Wohnbauten ergänzten. Als Bestandteil der hierarchisch angelegten Fabriksiedlung kommt dem "Mädchenheim" eine wichtige industrie- und sozialgeschichtliche Bedeutung zu. |
Bau- und Nutzungsgeschichte: | Fabrikanlage allgemein: 1869 nahm der Zürcher Unternehmer Emil Escher-Hotz in der von ihm im Stroppel neu erstellten mechanischen Nähfadenfabrik die Produktion auf [1]. Gemäss Brandkataster von 1875 umfasste das Fabrikareal damals folgende Gebäude: "1. Färberei- und Bleichereigebäude [Bauinventarobjekt UNS929D], einstöckig, von Stein erbaut mit Dampfkamin und zwei gewölbten Räumen im Erdgeschoss; 2. Zwirnereigebäude [Bauinventarobjekt UNS929A], dreistöckig, von Stein erbaut; 3. Poliergebäude [Bauinventarobjekt UNS929C], einstöckig, zwischen dem 1. und 2. Gebäude eingebaut, mit Blech- und Glasdach; 4. Turbinenhaus [Vorgängerbau des vorliegenden heutigen Kraftwerks von 1908/1932, Bauinventarobjekt UNS929B], einstöckig, von Stein, Riegel und Holz; 5. Sägegebäude [Bauinventarobjekt UNS929G], an das Werkstattgebäude angebaut, einstöckig, von Stein, Holz und Riegel, mit Anbau, 1 Vertikalsäge, 2 Zirkularsägen, 1 Bandsäge nebst Getriebe; 6. Werkstattgebäude [Bauinventarobjekt UNS929H], zweistöckig; 7. Ökonomiegebäude mit angebauter Stallung [Bauinventarobjekt UNS929I] [2]." Zur Anlage gehörten ausserdem ein unmittelbar neben dem Ökonomiegebäude stehendes zweistöckiges Wohnhaus mit drei Wohnungen (sog. "Meisterhaus", Bauinventarobjekt UNS929J) und im Roost zwei zweistöckige Arbeiterwohnhäuser (beide abgebrochen). Um das Einzugsgebiet für auswärts wohnende Arbeitskräfte auch auf die andere Uferseite erweitern zu können, unterhielt Escher-Hotz 1869-72 eine Fähre und 1872-1881 einen Fussgängersteg über die Limmat [3]. Mit 259 Arbeiterinnen und Arbeitern erreichte die Fabrik 1883 einen Spitzenwert [4]. 1885 beschäftigte sie noch 225 Personen – zu drei Viertel Frauen und Mädchen – und war damit die achtgrösste Fabrik im Kanton [5]. 1906 wurde die Firma von den Erben Eschers an die weltweit tätige schottische Unternehmergruppe für Nähfaden und Handarbeitsgarne, J. & P. Coats Ltd. in Glasgow verkauft und 1907 in die "Zwirnerei Stroppel AG" umgewandelt. Es folgten ein Umbau und eine Modernisierung der Anlagen, wobei das Turbinenhaus zu einem Kraftwerk (Bauinventarobjekt UNS929B) umgebaut und die Fabrik elektrifiziert wurden [6]. Neu hinzu kamen in dieser zweiten Bauetappe zwischen 1907 und 1911 flussaufwärts die neue Färberei (Bauinventarobjekt UNS929E), die Mitte 20. Jh. ein Sheddach erhielt, das Kesselhaus mit Hochkamin (Bauinventarobjekt UNS929F) und das Wasseraufbereitungsgebäude am südöstlichen Ende des Areals (nicht Bestandteil des Bauinventars). Ausserdem wurden in nordwestlicher Verlängerung der Anlage eine Direktorenvilla, ein Angestelltenwohnhaus und ein Arbeiterinnenheim mit Waschhaus (hier beschrieben) (Bauinventarobjekte UNS929K-M) errichtet. Nach einem Brand im Jahr 1932 musste das Maschinenhaus des Kraftwerks neu gebaut werden [7]. Im Laufe der 1980er Jahre stellte Coats Stroppel AG die Produktion ein (Aufgabe der Zwirnerei 1985) und fokussierte sich auf den Handel mit Merceriewaren, was mit einer Stilllegung auch des Wasserkraftwerks einherging [8]. 1995 erwarb die Proma Energie AG das Kraftwerk und die historische Fabrikanlage. Nach einer sanften Nachrüstung und Automatisierung setzte sie das Kleinkraftwerk wieder in Betrieb. Seit 2011 wird es von der Axpo betrieben, welche die verbliebenen alten Maschinengruppen (Turbinen und Generatoren) auswechselte. Die anderen technischen Einrichtungen blieben teilweise museal vor Ort erhalten. Im Industrieareal entwickelte sich währenddessen ein Gewerbezentrum. Heute sind in den Gebäuden der ehemaligen Nähfadenfabrik verschiedene Nutzungen vereinigt, vom Kleingewerbe und Büroarbeitsplatz über Kunstateliers und Kulturbetriebe bis zu Wohnungen.
"Mädchenheim": Da es sich als schwierig erwiesen hatte, für die abgelegene Fabrik in der ländlichen Umgebung genügend Arbeitskräfte zu finden, liess die neue Eigentümerin der Nähfadenfabrik J. & P. Coats Ltd. 1907-09 das sogenannte "Mädchenheim" bauen, in dem italienische Arbeiterinnen untergebracht werden konnten [9]. Geführt wurde das Heim, das auch eine Kantine enthielt, damals von katholischen Schwestern. Für Kost und Logis bezahlten die Mädchen pro Tag 1 Franken, bei einem Tageslohn von 4 Franken. Aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung und dem damit gesunkenen Bedarf an Arbeiterinnen stand das Heim später bis nach dem Zweiten Weltkrieg leer. 1947 wurde es wieder für 60 Mädchen hergerichtet und die Leitung samt Kantinenbetrieb dem Schweizer Verband Volksdienst übertragen [10]. Die Liegenschaft gehört seit den 1980er Jahren einem Bauunternehmen, das hier ehemals seine Arbeiter einquartiert hatte. Das weiterhin zu Wohnzwecken dienende Gebäude ist heute dem kantonalen Sozialdienst vermietet. |
Beschreibung: | Das Arbeiterinnenheim steht flussabwärts, an der Kurve der Zufahrtstrasse zum Fabrikgelände. Es ist das grösste Wohnhaus der Fabriksiedlung, was sich auch im relativ hohen, zur Zeit der Erbauung festgelegten Versicherungswert von 95'900 Franken äussert. Der dreigeschossig aufragende, mit zeittypischem Besenwurf verputzte Backsteinbau erstreckt sich unter einem Satteldach längs zum Limmatkanal. Die mittleren vier der insgesamt zwölf Achsen werden von einem quer dazu verlaufenden Halbwalmdach mit leicht höherem First überspannt, wodurch der Eindruck zweier ineinander geschobener Baukörper entsteht. An der nach Südwesten orientierten Vorderfront tritt diese Mittelpartie mit einem zusätzlichen Geschoss in Erscheinung, während sie auf der Rückseite als kräftiger Treppenhausrisalit vorspringt. An den seitlichen Flügeln besetzen beidseits des Firsts je drei zum Kniestock gehörende Giebelgauben mit holzverschaltem Giebelfeld das Dach. Das Erdgeschoss des nicht unterkellerten Baus ist als leicht vortretende, farblich anders gefasste Sockelzone von der übrigen Fassade geschieden. Abgesehen von einem kleinen Vorsprung am Übergang zum Kniestock werden die Fassaden lediglich durch die regelmässige, achsensymmetrische Verteilung der hochrechteckigen, noch mit den originalen Zementgewänden eingefassten Fenster gegliedert. Diese sind an den Stirnseiten etwas sparsamer gesetzt und beschränken sich an den beiden oberen Hauptgeschossen auf die Mittelachse. Die Gliederung in zwei Flügel und Oblicht orientiert sich an der ursprünglichen Sprosseneinteilung (vgl. Originalplan in der Bilddokumentation). Am rückseitigen, lediglich dreiachsigen Treppenhausrisalit besitzen die durchwegs als Zwillingslichter ausgebildeten Fenster jeweils nur einen Flügel. Der um zwei Treppenstufen erhöhte Hauseingang, der von einem Vordach mit Gehrschild und einfach verzierten Verbretterungen an Stirnseite und Bughölzern geschützt wird, besetzt die Mittelachse. Nebeneingänge befinden sich an der Vorderfront und auf der nordwestlichen Schmalseite des Gebäudes. Das Innere zeigt im Wesentlichen wohl noch die ursprüngliche räumliche Struktur mit beidseits vom Treppenhaus abgehenden Längsgängen und um diese herum angeordneten Zimmern. Teilweise werden die Räume von Kappendecken überspannt. Waschräume und Küche sind im Erdgeschoss untergebracht, desgleichen ein mit einfachem holzsichtigem Täfer ausgestatteter Raum, der früher als Speisesaal gedient haben dürfte. Die bestehende gemauerte Treppe mit Kunststeinstufen und rundem hölzernem Handlauf könnte aus der Umbauphase von 1947 stammen.
Zum "Mädchenheim" gehört ein Waschhaus (Vers.Nr. 249), das nur wenige Meter weiter nordwestlich zeitgleich mit dem Hauptbau erstellt wurde. Es handelt sich um einen Fachwerkbau mit bretterverschaltem Kniestock unter Satteldach, über dem noch der alte Kamin aufragt. An der flussseitigen Trauffassade sind drei mit Holzläden verschlossene Fenster eingelassen, an der bergseitigen befindet sich ganz in der Ecke der Eingang. Stirnseitig öffnet sich das Häuschen je mit einem Fenster, wobei im grosszügigen Dachraum das Holzlager untergebracht war. Das gemauerte, an der südöstlichen Schmalseite zugängliche Kellergeschoss tritt nur hangseitig zutage. Der Kleinbau bildet als zeittypisches Zugehör zum "Mädchenheim" mit diesem ein Ensemble. |
Erwähnung in anderen Inventaren: | - Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung BLN, BLN 1019 Wasserschloss beim Zusammenfluss von Aare, Reuss und Limmat (Schutzziel 3.8 Die kulturhistorischen Zeugen der Wasserkraftnutzung und der frühen industriellen Entwicklung erhalten). |
Anmerkungen: | [1] Hoegger 1995, S. 175-176. [2] Boner 1983, S. 188. Die abweichenden Bezeichnungen der Gebäude auf der Schautafel des Industriekulturpfads 1996 beziehen sich auf die Zeit nach dem Umbau und der Modernisierung der Bauten 1907-09. [3] Lang/Steigmeier 1995, S. 23. [4] Meier/Steigmeier 2008, S. 130. [5] Industriekulturpfad Limmat-Wasserschloss 1996, S. 21. [6] Lang/Steigmeier 1995, S. 5-6; Hoegger 1995, S. 175. [7] Meier/Steigmeier 2008, S. 132 (Bildlegende Abb. 10) [8] Hoegger 1995, S. 175-176; Lang/Steigmeier 1995, S. 6-7; AZ vom 22. Juni 2012, S. 31; Meier/Steigmeier 2008, S. 131. [9] Staatsarchiv Aargau, CA.0001/0067: Brandkataster Gemeinde Untersiggenthal 1899-1938. [10] Boner 1983, S. 188-189. |
Literatur: | - Georg Boner, Die Geschichte der Gemeinde Untersiggenthal, Baden 1983, S. 186-190 (zur Nähfadenfabrik allgemein). - Peter Hoegger, Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Bd. 7, Basel 1995, S. 175-177 (Wohnbauten S. 177). - Der Industriekulturpfad Limmat-Wasserschloss im Raum Turgi-Untersiggenthal-Vogelsang (Dokumentation 5), Baden 1996, S. 19-21 (zur Nähfadenfabrik allgemein). - Norbert Lang/Andreas Steigmeier, Fabrikanlage und Kraftwerk Stroppel (Industriekulturpfad Limmat-Wasserschloss, Dokumentation 2), Baden 1995, v.a. S. 21-24 (. - Bruno Meier/Andreas Steigmeier, Untersiggenthal. Eine Gemeinde im Umbruch, Untersiggenthal 2008, S. 130-133 (zur Nähfadenfabrik allgemein). - Kunstführer durch die Schweiz, Bd. 1, Bern 2005, S. 135. |
Quellen: | - Staatsarchiv Aargau, CA.0001/0067: Brandkataster Gemeinde Untersiggenthal 1899-1938. |
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URL for this unit of description |
URL: | http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=46218 |
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