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INV-REI921 Chrischona-Vereinshaus, 1877 (Dossier (Bauinventar))
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Chronologie |
Entstehungszeitraum: | 1877 |
Grundlage Datierung: | Brandkataster; Literatur |
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Typologie |
Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.): | Einzelobjekt |
Nutzung (Stufe 1): | Sakrale Bauten und Anlagen |
Nutzungstyp (Stufe 2): | Kapelle |
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Dokumentation |
Würdigung: | Das Vereinshaus der Pilgermission St. Chrischona wurde 1877 als erstes freikirchliches Gebäude in Reinach errichtet. Es ist hangparallel in den unteren Reinacherberg eingebettet und nimmt oberhalb der Abzweigung Alzbach-/Lenzstrasse eine dominierende Stellung ein. Der schlichte, wohl proportionierte Bau ist äusserlich intakt erhalten und mit symmetrischen Fassaden und Spitzbogenfenstern nach zeittypischen Merkmalen des Spätklassizismus und Historismus gestaltet. In der Kombination einer Predigerwohnung im Erdgeschoss mit einem darüber gelegenen Versammlungsraum stellt er eine typologische Seltenheit dar, die in dieser Anordnung einzigartig und in keiner anderen Chrischona-Kapelle mehr zu finden ist. Der Bau, der schweizweit zu den ältesten erhaltenen Kapellen der Pilgermission zählt, erlangt damit eine herausragende, über die Region Reinach hinaus weisende kulturgeschichtliche Bedeutung. |
Bau- und Nutzungsgeschichte: | Die Pilgermission St. Chrischona wurde 1840 von Christian Friedrich Spittler (1782-1867) gegründet. Der Name leitet sich von der mittelalterlichen Wallfahrtskirche St. Chrischona oberhalb Bettingen bei Basel ab, wo der in seiner Frömmigkeit pietistisch geprägte Spittler eine theologische Ausbildungsstätte für Missionare begründete. Darüber hinaus initiierte die Pilgermission im 19. Jh. verschiedene soziale und christliche Institutionen wie auch das Kinderspital und das Waisenhaus in Basel. Neben der Verkündigung des Evangeliums unter Katholiken, Orthodoxen und Juden war die Erweckung der protestantischen Christen ein Hauptanliegen. Ab 1869 entstanden erste Chrischona-Gemeinden in der Schweiz, die von Predigern angeleitet und seelsorgerisch betreut wurden. Diese verstanden sich zunächst als Ergänzung zur Evangelisch-reformierten Landeskirche und vollzogen Taufen, Trauungen oder Abdankungen nicht selbst. Erst ab den 1930er Jahren setzte in den Gemeinden eine Abspaltung Richtung Freikirche ein [1]. Während die Versammlungen in der Anfangszeit in privaten oder gemieteten Räumen stattfanden, errichtete die Pilgermission später eigene Kapellen. Die erste wurde 1873 im thurgauischen Mattwil geweiht. 1874 gab es in der Schweiz bereits sieben "Stationen", 1875 neun und 1877 zwölf, wobei unklar ist, ob "Station" auch ein eigenes Gebäude beinhaltete [2]. Heute ist die Zahl der Gemeinden auf hundert angewachsen. In Reinach nahm die Pilgermission St. Chrischona ihre Tätigkeit um 1875 auf, nur zwei Jahre nach der Kapellenweihe in Mattwil. Der hierher gesandte Evangelist Johannes Hey von Minfeld in der Pfalz kaufte im Namen der "Pilgermissionsanstalt auf St. Crichone zu Basel" eine halbe Jucharte Land im Alzbach. Als Bürgen zeichneten Samuel Keller, Bassami, und Jakob Merz, Gabrielen [3]. Das auf dem Grundstück errichtete Vereinshaus wurde 1877 mit einem grossen Fest eingeweiht, es war das erste freikirchliche Gebäude in Reinach. Der Bau – eine für damalige Verhältnisse geräumige Kapelle mit Predigerwohnung im Erdgeschoss - löste unter den Gemeindemitgliedern Unstimmigkeiten aus, in der Folge verliess Hey die Gemeinde 1878 wieder. Nachfolger wurde Markus Hauser, der zuvor in Mattwil die erste Chrischona-Gemeinde gegründet hatte. Unter seiner Leitung bis 1887 wuchs die Gemeinde stark an. Bei seinem Abschlussgottesdienst versammelten sich gegen 600 Gläubige [4]. 1951/52 erfolgte eine Renovation und Purifizierung des Versammlungsraums, bei der die Stützen der Empore entfernt und die Spitzbogenfenster an der Stirnfront von innen vermauert wurden. Gleichzeitig kam mit dem Anbau eines kleinen nordseitigen Saals eine direkt in den Kapellenraum führende Aussentreppe auf der von der Strasse abgewandten Traufseite hinzu [5]. Auch die beidseitigen Schleppgauben dürften aus dieser Zeit stammen. Die Räume der Wohnung dienen heute u. a. der Kinderbetreuung und als Büro, während der Saal noch die ursprüngliche Nutzung hat.
Die Chrischona-Gemeinde Reinach gehört zu den frühesten Gründungen der Pilgermission in der Schweiz und besitzt vermutlich die älteste aller noch bestehenden Kapellen, die von der Chrischona oder einem sich später der Chrischona anschliessenden Evangelischen Verein gebaut wurden [6]. Grundsätzlich sind zwei Nutzungstypen zu unterscheiden: die "Kapelle" nur mit Saal und das "Vereinshaus" mit Gemeindesaal und Predigerwohnung unter einem Dach. Die Wohnung war in der Regel – teilweise auch durch nachträgliche Aufstockung – über dem Saal angelegt [7]. Vertreter dieses Typs finden sich im Kanton Aargau in Unterkulm (altes Vereinshaus von 1881), Brugg (1903), Lenzburg (1934, Aufstockung 1946) und Kölliken (1930, Aufstockung 1949). Das ehemalige Gebäude des Evangelischen Vereins (später Chrischona) in Zofingen, das 1872 aus einem umgebauten Ökonomiegebäude hervorging, ist äusserlich wie in Unterkulm als zweigeschossiges Wohnhaus gestaltet, ohne dass sich die Fenster des Saals in ihrer Dimension oder Form hervorheben. In der äusserlich ablesbaren Nutzungsabfolge mit Predigerwohnung im Erdgeschoss und Gemeindesaal im Obergeschoss erscheint das Vereinshaus in Reinach von 1877 nach heutigem Wissensstand in der ganzen Schweiz als Einzelfall [8]. |
Beschreibung: | Das Vereinshaus der Chrischona-Gemeinde steht weithin sichtbar am Fuss des nach Osten abfallenden Reinacherbergs. Es markiert das Ende der ehemals bäuerlichen und später von Fabrikanlagen gesäumten Alzbachstrasse. Der parallel zur Höhenlinie an den Hang gestellte Baukörper nimmt den Winkel zwischen der abzweigenden Lenzstrasse und der Hinteren Bergstrasse ein und tritt über einer Stützmauer mit einfachem, heckenbegrüntem Eisenzaun prominent in Erscheinung. Beim 1877 errichteten Vereinshaus handelt es sich um einen spätklassizistischen Mauerbau, der in der Verwendung neugotischer Spitzbogenfenster ein eher frühes Aufgreifen von historistischen Tendenzen zeigt. Das durch eine achsenbetonte Symmetrie ausgezeichnete Gebäude vereint unter einem knappen Satteldach auf zwei Geschossen einen Gemeindesaal und eine Predigerwohnung. Das Erdgeschoss mit den Wohnräumen besitzt in regelmässiger Anordnung - längsseitig fünf, giebelseitig zwei - Rechtecklichter mit gefalzten Sandsteingewänden, Blockgesimsen und Holzläden. Darüber erhebt sich, in gleicher Rhythmisierung und durch ein Sohlbankgesims abgesetzt, das überhohe Obergeschoss mit der Kapelle. Nach aussen ist diese durch die sakral aufgeladene Spitzbogenform der Fenster gekennzeichnet. Die beiden seitlichen Frontfenster, welche den Chorbereich definieren, besitzen noch immer die mit geometrischen Ornamenten aus buntem Glas und Bleiruten gearbeiteten Fenster aus der Bauzeit (innenseitig vermauert). Das mittlere, etwas grössere Spitzbogenfenster war vermutlich von Anfang an nur als angedeutete Nische mit aufgemaltem Kreuz und Bibelvers gestaltet (vgl. historische Aufnahme, Bilddokumentation). Abgeschlossen wird die Fassade gegen oben von einem kräftigen Kranzgesims, welches auch die Ansätze des Giebelfussgesimses begleitet. Unter dem First ist jeweils eine runde Öffnung (Oculus) eingelassen. In die Wohnung führt ein südostseitig angelegter Eingang mit erneuertem Vordach, während der Kapellenraum rückseitig über eine integrierte Vorhalle mit Innentreppe erschlossen ist. Der direkte Aussenzugang an der nordwestlichen Gebäudeecke ist eine Zutat von 1951/52. Das Innere der Kapelle wirkt seit der Modernisierung, bei welcher die beiden Chorfenster und die mittige Spitzbogennische zugemauert wurden, nüchtern. Von der historischen Ausstattung, welche aus einer kassettierten Gipsdecke, Brusttäfer und abschliessendem Ornamentfries an den Wänden, Bänken und einer erhöhten Kanzel aus Holz sowie Leuchtern mit ausladenden Armen und kugeligen Glaskörpern bestand, ist nichts mehr vorhanden. Die Beheizung erfolgte laut Brandkataster durch "8 Cylinder-Ofen" (vgl. Ofen und Kamine auf den historischen Aufnahmen) [9]. |
Anmerkungen: | [1] www.relinfo.ch/chrischona/info. www.chrischona-schoeftland-rued.ch/ueber-uns/die-chrischona; Eggenberger 1964, S. 49; Veiel 1940. [2] Veiel 1940, S. 249-250. [3] Steiner 1995, S. 528. Staatsarchiv Aargau, CA.0001/0262: Brandkataster Gemeinde Reinach 1876-1898. [4] www.chrischona-reinach.ch (Kapitel über die Geschichte der Gemeinde von Samuel Figilister). [5] Gemäss Kurzinventar. www.chrischona-reinach.ch (Kapitel über die Geschichte der Gemeinde von Samuel Figilister). [6] Laut Auskunft der Liegenschaftsverwaltung Chrischona-Gemeinden Schweiz vom 30.04.2013 befinden sich im Besitz der Chrischona-Gemeinden Schweiz keine älteren Kapellen, ausgenommen übernommene Vorgängerbauten (wie z.B. die Wallfahrtskapelle St. Chrischona). Ob es unter den wieder veräusserten Chrischona-Bauten evtl. noch ältere Bauten gibt, konnte nicht überprüft werden; die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr klein, da es zur Zeit der Kapellenweihe in Reinach nur zwölf "Stationen" gab. [7] Erläuternder Bericht zum Gutachten Nr. 22-2003 der Denkmalpflege des Kantons Zürich, Buch am Irchel, Oberbuch, Ehemalige Chrischona-Kapelle, Vers. 267, Hauptstrasse, S. 7. Angaben zu den einzelnen Gebäuden von der Homepage der jeweiligen Chrischona-Gemeinde sowie von der Liegenschaftsverwaltung. [8] Laut Auskunft der Liegenschaftsverwaltung Chrischona-Gemeinden Schweiz vom 30.04.2013 befinden sich im Besitz der Chrischona-Gemeinden Schweiz keine weiteren Kapellen vom gleichen Nutzungstyp. [9] Staatsarchiv Aargau, CA.0001/0262: Brandkataster Gemeinde Reinach 1876-1898. |
Erwähnung in anderen Inventaren: | - Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS), regionale Bedeutung. |
Literatur: | - Denkmalpflege des Kantons Zürich, Erläuternder Bericht zum Gutachten Nr. 22-2003, Buch am Irchel, Oberbuch, Ehemalige Chrischona-Kapelle, Vers. 267, Hauptstrasse, Zürich 12. März 2004. - Oswald Eggenberger, Die Freikirchen in Deutschland und in der Schweiz und ihr Verhältnis zu den Volkskirchen, Zürich 1964, S. 45-50. - Peter Steiner, Reinach. 1000 Jahre Geschichte, Reinach 1995, S. 528. - Friedrich Veiel, Die Pilgermission von St. Chrischona, Basel 1940. |
Quellen: | - Staatsarchiv Aargau, CA.0001/0262: Brandkataster Gemeinde Reinach 1876-1898. - www.chrischona-reinach.ch (Kapitel über die Geschichte der Gemeinde von Samuel Figilister). - www.relinfo.ch/chrischona/info. www.chrischona-schoeftland-rued.ch/ueber-uns/die-chrischona. |
Reproduktionsbestimmungen: | © Kantonale Denkmalpflege Aargau |
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URL for this unit of description |
URL: | http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=121963 |
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