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INV-GEB908 Kosthaus Landstrasse 113-117, 1875 (Dossier (Bauinventar))
Ansichtsbild: |
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Chronologie |
Entstehungszeitraum: | 1875 |
Grundlage Datierung: | Schriftliche Quelle |
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Typologie |
Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.): | Teil einer Baugruppe |
Weitere Teile der Baugruppe: | WIN018-022, WIN909-914, GEB906, 907, 909, 912 |
Nutzung (Stufe 1): | Profane Wohnbauten |
Nutzungstyp (Stufe 2): | Kosthaus |
Epoche / Baustil (Stufe 3): | Biedermeier |
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Dokumentation |
Würdigung: | Das westliche von zwei typengleichen Kosthäusern der Kunz’schen Spinnerei in Windisch, die 1875 im Gebenstorfer Weiler Reuss errichtet wurden. Die in charakteristisch nüchternen spätklassizistischen Formen gehaltenen Zweckbauten entsprechen dem in Windisch und Gebenstorf zwischen 1865 und 1875 mehrfach ausgeführten Kosthaustyp mit Geschosswohnungen in drei bis vier quer zum First geteilten Abschnitten. Die beiden Gebenstorfer Kosthäuser stellen dabei aussen wie innen heute die besterhaltenen Vertreter dieses Typus dar (zum östlichen Pendant vgl. Bauinventarobjekt GEB907). Zusammen mit den vier in Windisch gelegenen Kosthäusern (Bauinventarobjekte WIN910A-D) und den übrigen Bauten der ehemaligen Spinnerei (Kantonale Denkmalschutzobjekte WIN018-022, Bauinventarobjekte WIN909-914, GEB906, 909, 912) bilden die Gebäude ein eindrückliches und einzigartiges Ensemble von hohem industriegeschichtlichem Zeugenwert, dem mit seiner Gruppierung an beiden Ufern der Reuss zudem ein erheblicher Situationswert zukommt. In ihrer unmittelbaren Nahumgebung kommt den beiden Kosthäusern zusammen mit dem gegenüberliegenden Angestelltenwohnhaus aus der Zeit um 1840 und dem Waschhaus von 1867 eine zentrale Bedeutung für das Ortsbild des Gebenstorfer Weilers Reuss zu. |
Bau- und Nutzungsgeschichte: | Der Weiler Reuss war seit dem ausgehenden 18. Jh. in einer Flussschleife entstanden. Nach der Gründung der Spinnerei in Windisch im Jahr 1829 wurde er zum Bauplatz für den rasch expandierenden Industriebetrieb, der zeitweise als einer der grössten seiner Art in Europa galt [1]. Zu den ersten Gebäuden, die der Windischer „Spinnereikönig“ Heinrich Kunz in den 1830/40er Jahren auf Gebenstorfer Boden errichten liess, gehörten eine Fuhrhalterei (Bauinventarobjekt GEB912), ein Wirtshaus (Vers.-Nr. 176) sowie ein Mehrfamilienhaus, welches dem bessergestellten Fabrikpersonal diente (Bauinventarobjekt GEB906) [2]. Schon 1837 liess Kunz auf der Windischer Seite ein erstes „Kosthaus“ zur Unterbringung der Fabrikarbeiter erstellen, wie man die grossen, fabrikeigenen Arbeiterwohnhäuser des 19. Jh. nannte. Nach dem Bau der „Neuen Fabrik“ unter Kunz' Nachfolgern Johann Wunderly-Zollinger und Heinrich Zollinger-Billetter im Jahr 1865 errichtete man zwei weitere Kosthäuser in Windisch und ein erstes in Gebenstorf. 1875 folgten, nun unter Hans Wunderly-von Muralt, ein Neubau in Windisch und zwei in Gebenstorf, womit das Unternehmen schliesslich über insgesamt 99 Wohnungen in sieben eigenen Kosthäusern verfügte. Diese boten der meist auswärtigen Arbeiterschaft eine sehr bescheidene Unterkunft; sie dienten aber auch dazu, die Arbeiter umso stärker an die Fabrik zu binden und waren hier wie anderswo für ihre schlechten Wohnverhältnisse und auch ihre Überbelegung berüchtigt [3]. Seinen Namen hatte der Bautypus des Kosthauses wohl von Einrichtungen erhalten, in denen ursprünglich in der Fabrik arbeitende Kinder als „Kostgänger“ untergebracht waren [4]. An zusätzlichen Bauten entstanden auf der Gebenstorfer Seite 1867 ein Waschhaus (Bauinventarobjekt GEB909), etwa gleichzeitig ein Krankenasyl und um die Wende zum 20. Jh. ein Heim für ledige Arbeiterinnen [5]. Nachdem die beiden letzteren Bauten bereits vor geraumer Zeit und im Jahr 2003 auch das Kosthaus von 1865 abgebrochen worden sind, bestehen heute in Gebenstorf nebst dem gegenüberliegenden Angestelltenwohnhaus (Bauinventarobjekt GEB906) noch die beiden baugleichen Kosthäuser von 1875 sowie das bereits 1867 errichtete Waschhaus. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurden die Wohnungen der beiden Kosthäuser sukzessive modernisiert. Im Gegensatz zu den typengleichen, später in Stockwerkeigentum übergegangenen Bauten in Windisch werden die Gebenstorfer Kosthäuser weiterhin als Mietwohnungen genutzt und haben dadurch weniger weitgehende bauliche Eingriffe erfahren. Zuletzt erfolgte im Jahr 2012 eine Erneuerung der Küchen samt den integrierten Bädern; gleichzeitig wurden die Fassaden neu gestrichen [6]. |
Beschreibung: | Zusammen mit dem rund dreissig Jahre älteren Angestelltenwohnhaus auf der gegenüberliegenden Seite der Landstrasse bilden die beiden entlang der Strasse aufgereihten Kosthäuser von 1875 eine ortsbildprägende Baugruppe im Weiler Reuss, zu der noch das rückwärtig in der Mittelachse zwischen den beiden Bauten gelegene kleine Waschhaus hinzukommt. Zu beiden Seiten des Waschhauses liegen die zu den Kosthäusern gehörigen privaten Pflanzgärten. Die Verbindung zum älteren, südwestlich gelegenen Kosthaus stellte eine schmucke Platanenallee her, die zusammen mit diesem verschwunden ist. Die beiden nach identischem Plan errichteten Kosthäuser entsprechen ebenso wie das abgebrochene Kosthaus von 1865, die Kosthäuser 2-4 in Windisch und die ehemals drei in Vogelsang (vgl. zum erhaltenen Bauinventarobjekt GEB916) einem verbreiteten Typus, der meist vier Abschnitte von jeweils drei übereinanderliegenden Geschosswohnungen mit eigenem Treppenhaus zu einem Baukörper zusammenfasste. In der Nachfolge älterer, reihenhausartig organisierter Kosthäuser in Gebrauch gekommen, taucht der Geschosswohnungs-Typus erstmals mit dem 1840 errichteten Kosthaus der Spinnerei Wild & Solivo in Baden auf [7]. Im Unterschied zu den übrigen genannten Bauten umfassen die hier beschriebenen Gebenstorfer Kosthäuser allerdings nur drei statt vier Abschnitte. Wie sein Pendant präsentiert sich das Kosthaus Landstrasse 107-111 als dreigeschossiger verputzter Mauerbau, der entsprechend der Bauaufgabe in charakteristisch nüchternen spätklassizistischen Formen gehalten ist. Mit seinem langgestreckten Volumen parallel zur Strasse gestellt, wird er von einem knappen, flach geneigten Giebeldach abgeschlossen. Die nördliche Trauffassade zur Strasse zählt acht Fensterachsen, von denen die jeweils zwei zu den äusseren Wohnungen gehörenden mit Doppelfenstern, jene der inneren Wohnungen mit Einzelfenstern versehen sind. Jeweils zwei Achsen von Zwillingslichtern gliedern die Stirnseiten; darüber belichten zwei Einzelfensterchen und eine Lünette (Halbrundfenster) das Dachgeschoss. Die südliche, rückwärtige Trauffassade ist siebenachsig gegliedert, wobei die mittlere und die beiden äusseren Achsen von den Treppenhäusern eingenommen werden, die jeweils von den kleinen Abortfensterchen begleitet sind; dazwischen liegen zweimal zwei Achsen von Doppelfenstern. Fenster- und Türöffnungen sind mit gefalzten Steingewänden versehen. Im Grundriss gliedert sich das Gebäude auf allen drei Etagen in zwei spiegelbildlich identische äussere Wohnungen mit jeweils drei Kammern und Küche sowie eine mittlere Wohnung mit einer zusätzlichen Kammer (vgl. Baupläne) [8]. Mit Ausnahme jeweils einer gefangenen Kammer waren ursprünglich sämtliche Räume ausschliesslich direkt vom Treppenhaus aus erschlossen, was mit dem Verzicht auf Korridore eine Platzersparnis bedeutete; ausserdem eigneten sich die direkt vom Treppenhaus aus erschlossenen Kammern auch zur Untervermietung. Bereits ursprünglich war auf jeder Etage ein Abort vorhanden, was gegenüber älteren Kosthäusern immerhin einen Fortschritt darstellte. Direkt vom Treppenpodest aus erschlossen, griffen diese fensterseitig in die Grundfläche der Küche ein. Ursprünglich war jeweils nur die Stube mit einem Kachelofen heizbar. Der Eisenherd in der Küche hatte zwei Löcher und ein Wasserschiff. Nur die Stuben der äusseren Hausteile wiesen Täfer auf, während alle anderen Räume lediglich verputzt und geweisselt waren. Der Bauplan von 1875 zeigt auch die Möblierung mit zwei Betten in den grösseren und einem in den kleineren, gefangenen Kammern. Dabei macht die aus Volkszählungen bekannte Belegung der Kosthäuser deutlich, dass die Anzahl der Betten keinesfalls der Anzahl der Bewohner entsprach, sondern die Betten im Schichtbetrieb oft mehreren Familienmitgliedern und Untermietern diente. In den Grundzügen hat sich die Raumstruktur der Wohnungen bis heute erhalten, während die einfache ursprüngliche Ausstattung durch sukzessive Modernisierung verschwunden ist. Vorhanden sind noch ursprüngliche Holztreppen sowie Türgewände. Einige Zimmertüren zum Treppenhaus wurden unter Erhaltung der Türgewände verschlossen. In den Küchen sind heute Bäder integriert. |
Anmerkungen: | [1] Hoegger Kdm AG VII 1995, S. 36f.; zur Geschichte der Kunz’schen Spinnerei vgl. allg. Baumann 1983, S. 507-594. [2] Hoegger Kdm AG VII 1995, S. 37. [3] Baupläne der Gebenstorfer Kosthäuser im Archiv der Eigentümer, nach Dobler 2016; für die Bautätigkeit der Spinnerei allg. vgl. ebd. u. Baumann 1983, S. 567-574. [4] Steinmann 1980, S. 48. [5] Hoegger Kdm AG VII 1995, S. 37; Baupläne des Waschhauses (Bauinventarobjekt GEB909) im Besitz des Eigentümers, nach Dobler 2016. [6] Dobler 2016. [7] Vgl. Dobler 2016 u. Steinmann 1980. [8] Inneres nach Dobler 2016. |
Literatur: | - Max Baumann, Geschichte von Windisch vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Brugg 1983, S. 507-594 (zur Geschichte der Spinnerei allgemein, darin S. 567-574 zu den Kosthäusern). - Heiko Dobler, Leben für die Fabrik. Kosthäuser der frühen Industrialisierung im Kanton Aargau, MAS-Arbeit, BFH Burgdorf, Fertigstellung 2016. - Peter Hoegger, Die Landgemeinden des Limmattals, des Surbtals, des Aaretals und des Unteren Reusstals sowie das Kloster Fahr (Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Band VII), Basel 1995, S. 37. - Martin Steinmann, Die Kosthäuser. Einleitung zu einer Typologie von Arbeiterhäusern in ländlichen Gebieten der Schweiz, in: Archithese, 10. Jg. (1980), Nr. 5, S. 48-52. |
Quellen: | - Baupläne im Archiv des Eigentümers (nach Dobler 2016). - Kantonale Denkmalpflege Aargau, Fotoarchiv. |
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Related units of description |
Related units of description: | siehe auch: DOK-GEB839.010 Landstrasse 107/109/111/113/115/117, Kosthäuser der Spinnerei Kunz (Dossier (Dokumentationsobjekte))
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URL for this unit of description |
URL: | http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=35130 |
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