INV-LEN948 Villa Bollbergstrasse 2, 1878 (Dossier (Bauinventar))

Archive plan context


Identifikation

Signatur:INV-LEN948
Signatur Archivplan:LEN948
Titel:Villa Bollbergstrasse 2
Ansichtsbild:
1/2
Bildlegende:Ansicht von Südwesten (2016)
Bezirk:Lenzburg
Gemeinde:Lenzburg
Ortsteil / Weiler / Flurname:Bollberg
Hist. Name Objekt:Villa "Jurablick"
Adresse:Bollbergstrasse 2
Versicherungs-Nr.:74
Parzellen-Nr.:945
Koordinate E:2656083
Koordinate N:1249191

Chronologie

Entstehungszeitraum:1878
Grundlage Datierung:Brandkataster

Typologie

Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.):Einzelobjekt
Nutzung (Stufe 1):Profane Wohnbauten
Nutzungstyp (Stufe 2):Repräsentatives Wohnhaus, Villa
Epoche / Baustil (Stufe 3):Historismus

Schutz / Status

Status Bauinventar:Neuaufnahme Bauinventar 2017

Dokumentation

Autorschaft:Theodor Bertschinger (sen., 1845-1911), Baumeister, Lenzburg (Kernbau 1878); Nicolaus Hartmann (sen.,1838-1903), Architekt, St. Moritz
Würdigung:1878 erbaute herrschaftliche Villa in Historismusformen, die ihr heutiges Erscheinungsbild mit zwei Umbauten erhalten hat. Der vom Lenzburger Baumeister Theodor Bertschinger (sen.) auf eigene Rechnung errichtete Ursprungsbau wurde 1893/94 für den aus der bekannten St. Moritzer Hoteliersfamilie stammenden Paul Badrutt und Frederike Bertschinger umgebaut; die Pläne lieferte der bedeutende Bündner Architekt Nicolaus Hartmann (sen.), welcher die Villa mit einem qualitätvollen Interieur ausstattete und das Äussere in den Formen des italienischen Villenstils umgestaltete. Um 1920 entstand das heutige Dach. Bemerkenswert sind insbesondere die beiden Täferstuben in holzsichtigem Arvenholz von 1893/94, am Äusseren die mit trompe-l’oeil-Malereien ausgemalte, gewölbte Eingangsvorhalle. Die aussen wie innen in den Formen ihrer verschiedenen Bauphasen erhaltene Villa bildet ein wertvolles Zeugnis für die gehobene Wohnkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts und ist mit ihrer Bauherrschaft zudem von lokalgeschichtlichem Interesse.
Bau- und Nutzungsgeschichte:Der Ursprungsbau der Villa, die auch mit dem Hausnamen „Jurablick“ bekannt ist, wurde gemäss Angabe im Brandkataster 1878 durch Baumeister Theodor Bertschinger sen. (1845-1911) auf eigene Rechnung und wohl auch nach eigenen Plänen erstellt [1]. Bertschinger wohnte in der benachbarten, nur fünf Jahre zuvor erstellten Villa Bollbergstrasse 8 (Bauinventarobjekt LEN947) und besass einen ganzen Teil des Bollberghangs, wo er seit 1868 auch seinen Werkhof betrieb [2]. Im ursprünglichen Zustand umfasste die Villa nur den südlichen Hauptbaukörper (vgl. Plan von 1881 in der Bilddokumentation).
1890 ging die Liegenschaft an Paul Badrutt-Bertschinger (1851-1912) über, der aus der bekannten St. Moritzer Hoteliersfamilie Badrutt stammte und mit Frederike Bertschinger (1861-1948), einer Tochter des Lenzburger Bauunternehmers, verheiratet war [3]. Zunächst wohnte das Ehepaar in St. Moritz, soll aber nach Lenzburg umgezogen sein, weil die Gattin das St. Moritzer Klima zu kalt fand [4]. 1893/94 wurde ein aufwendiger Um- und Erweiterungsbau ausgeführt, bei dem sich der Versicherungswert des Gebäudes auf mehr als das Vierfache steigerte [5]. Die Pläne lieferte der bekannte St. Moritzer Architekt Nicolaus Hartmann (sen.,1838-1903), der dort für die Familie Badrutt insbesondere das Hotel „Kulm“ erbaut hatte [6]. Auf diesen Hotelbau sollen sich denn auch einzelne Elemente des Umbauprojekts für die Villa orientieren [7]. Mit dem Umbau wurde das Gebäude den dreigeschossigen Quertrakt an der Nordseite erweitert; gleichzeitig erhielten die Innenräume eine aufwendige Ausstattung. Das Resultat des Umbaus ist in zeitgenössischen Fotografien dokumentiert (vgl. Bilddokumentation). Der gegenüber dem Hauptbau risalitierte nordseitige Quertrakt trat damals im Sinn des sogenannten italienischen Villenstils als asymmetrisch angelegter Eckturm mit flach geneigtem, weit überstehenden Dachabschluss in Erscheinung; der Hauptbau lag in gewissem Kontrast dazu unter einem historistischen Mansarddach, das wohl auf den Ursprungsbau zurückging.
Um 1910/20 erhielt die Villa bei einem neuerlichen Umbau über beiden Gebäudeteilen deutlich steilere Vollwalmdächer mit und ohne Mansardgeschoss. Im weiteren Verlauf des 20. Jh. erlebte die Villa bei kontinuierlichem baulichem Unterhalt nur wenige Veränderungen.
Beschreibung:Die stattliche Villa erhebt sich in einem Gartengrundstück am Fuss des Bollbergs und ist in ihrem heutigen Erscheinungsbild Resultat der Umbauten von 1893/94 sowie um 1910/20. Der verputzte Mauerbau gliedert sich in einen zweigeschossigen, im Grundriss annähernd quadratischen Hauptbaukörper und einen nördlich anstossenden, gegenüber dem Hauptbaukörper deutlich risalitierten dreigeschossigen Quertrakt, der vom Umbau von 1893/94 stammt. Um 1910/20 entstanden die auffallend steilen Dächer, ein Mansardwalmdach über dem Hauptbaukörper und ein hochragendes Walmdach über dem Seitentrakt, welche die heutige Erscheinung des Gebäudes im Sinn des damals aktuellen Heimatstils wesentlich prägen.
Hauptschauseite ist die zum Tal gerichtete Westfassade. Der dreigeschossige, schmale Quertrakt erscheint hier als helmbekrönter, turmartiger Eckrisalit von drei Vollgeschossen. In der Mittelachse ist ihm über zwei Geschosse ein dreiseitiger Standerker vorgelegt, der im Erdgeschoss stich- und im ersten Obergeschoss rundbogige Fensteröffnungen besitzt. Im zweiten Obergeschoss trägt er einen Balkon mit Schmiedeeisengeländer, auf den sich eine dreiteilige Fenstertür mit durchlaufendem Gebälk öffnet. Der Hauptbaukörper ist hier dreiachsig mit Einzelfenstern in Steingewänden versehen, die am Obergeschoss durch klassizistische Gesimsbekrönungen akzentuiert werden. Im Mansardgeschoss sitzen drei eng gereihte Giebellukarnen, im Walmdach des Eckrisalits eine weitere.
Die zur Zufahrt gewandte Südfassade ist in analoger Weise zweiachsig mit Einzelfenstern besetzt. Über die südöstliche Gebäudeecke zieht sich eine in das Gebäudevolumen einspringende Gewölbehalle mit dem Hauseingang. Einen originellen Blickfang bilden darüber zwei hölzerne Dreieckserker in Neorenaissanceformen, die über Eck im Obergeschoss der Süd- wie auch der Ostfassade vorspringen. Sie setzen über den Schlusssteinen der Gewölbehalle auf und sind mit beschnitztem Fensterpfosten, Volutenkonsole und aufgesetztem Pinnakel üppig instrumentiert. Die Eingangsvorhalle ist über quadratischen Pilastern als zweijochiges Kuppelgewölbe gestaltet. Die Gewölbeflächen sind mit antikisierenden Malereien geschmückt, die Maskenköpfe, Lorbeer- und Ölzweige sowie den Ausblick in den gemalten Himmel einer Gartenlaube zeigen, unterbrochen von einem Gurtbogen mit der Aufschrift „Salve“. Erhalten ist auch der Hauseingang mit einer von zwei Pilastern gerahmten Füllungstür.
Als Rückfront unregelmässiger gestaltet ist die Ostfassade. Die vom Seitenrisalit gebildete, um ein Geschoss höhere Nordfassade ist mit Einzelfenstern in drei Achsen regelmässig gegliedert. Das erste Obergeschoss besitzt einen Balkon mit reich verziertem Gusseisengeländer. ein Der horizontal strukturierte Rauhputz wurde wohl im Lauf des 20. Jh. aufgebracht. Die Jalousieläden sind in Metall ersetzt. Das Dach ist mit einer Biberschwanz-Doppeldeckung versehen.
Das Innere zeigt eine intakt erhaltene Ausstattung aus der Umbauphase von 1893/94, die durch ihre aufwendige und abwechslungsreiche Gestaltung in Neorenaissanceformen auffällt. Unmittelbar hinter dem Hauseingang liegt an der Westfassade das Treppenhaus. Von einem an das Treppenhaus anstossenden Vorplatz sind in beiden Geschossen die einzelnen Räume erschlossen. Das Erdgeschoss ist als vollständige Wohnung mit Wohn- und Schlafräumen konzipiert, während das Obergeschoss eine Abfolge von Salonräumen enthält. Im Mansardgeschoss liegen wie üblich die Bedienstetenzimmer. Die Treppe verfügt über Kunststeinstufen und ein reich verziertes Schmiedeeisengeländer; die Podeste sind mit sechseckigen Zementfliesen ausgelegt. In beiden Geschossen sind noch die bauzeitlichen, verglasten Wohnungsabschlüsse erhalten. Im etwas weniger aufwendig gestalteten Erdgeschoss ist der Vorplatz mit ornamentierten Zementfliesen ausgelegt. Das strassenseitig anstossende Wohnzimmer ist mit gestrichenem, raumhohem Täfer und Wandschränken ausgestattet. Alle Räume verfügen über schöne, unterschiedlich gestaltete Parkettböden und über gestemmte Holztüren. Erhalten sind im Wohnzimmer ein klassizistischer weisser Zylinderofen, im Esszimmer ein historistischer Kastenofen, ferner Radiatoren mit Wärmefach aus der Zeit um 1900. Esszimmer und Küche sind mit einer Durchreiche verbunden.
Das ungleich üppiger gestaltete Obergeschoss wird vom Treppenhaus über einen korbbogigen Durchgang mit Glastür betreten. Zwei Stuben in der Südostecke und im Seitenrisalit sind in unterschiedlicher Weise mit aufwendig gestaltetem, holzsichtigem Arventäfer ausgestattet, das vom Architekten Nicolaus Hartmann (sen.) noch ganz in den Formen des Historismus gestaltet wurde. Als charakteristisch bündnerisches Material soll es sicherlich auf die Heimat des Bauherrn anspielen. Das Täferzimmer im Seitenrisalit hat etwa quadratischen Grundriss und bezieht auch den dreiseitigen Erker mit ein. Es wird von einem besonders aufwendigen Deckentäfer abgeschlossen. Am Einbaubuffet ist die Jahrzahl 1894 eingeschnitzt. Im Südostzimmer ist das Täfer annähernd raumhoch ausgebildet. Die beiden über Eck angeordneten Dreieckserker definieren in origineller Weise eine diagonal an den Raum angeschlossene Rechtecknische, die vollflächig vertäfert ist und zum Raum hin von einem Segmentbogen samt Hängezapfen abgeschlossen wird. Die Erkerfenster sind im Obstück mit ornamentalen Glasmalereien geschmückt. Zwei Salons an der Westfassade sind mit gestrichenem Knietäfer ausgestattet. Alle Räume verfügen über Parkettböden in unterschiedlicher Gestaltung. Im Dachgeschoss besitzt der Vorplatz noch eine einfache Täferausstattung, das im Eckrisalit gelegene Zimmer eine ebenfalls einfacheres Sichtholztäfer. Die ehemaligen Mansarden sind teilweise zu einem durchgehenden Raum zusammengefasst.
Der Garten wird zur Bollbergstrasse hin von einem schönen Schmiedeeisengeländer umfriedet, das sich über einer Terrassenmauer mit Putzquaderung erhebt.
Anmerkungen:[1] Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938.
[2] Theodor Bertschinger (sen.) war für seine Hochbauaufträge, insbesondere aber auch für den Bau zahlreicher Eisenbahnstrecken und Bergbahnen in der ganzen Schweiz bekannt, wobei er seine Aufträge meist als Generalunternehmer ausführte. Vgl. Schweizerische Bauzeitung (SBZ), Bd. 57 (1911), S. 305 (Nekrolog); 100 Jahre Theodor Bertschinger 1868–1968, [Zürich 1968], S. 5-28; Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), s.v. ‚Theodor Bertschinger‘ (Stand 2002), http://www.hls-dhs-dss.ch; Michael Hanak, Quartieranalyse Wolfsacker in Lenzburg, im Auftrag des Stadtbauamtes Lenzburg, 2015 (Stadtbauamt Lenzburg), S. 34.
[3] Paul Ivanhoe Badrutt war ein Sohn von Johannes Badrutt (1819-1889) und Maria Berry (1822-1877), Hoteliers in St. Moritz in zweiter Generation; Lebensdaten nach Susanna Ruf, Fünf Generationen Badrutt: Hotelpioniere und Begründer der Wintersaison, Zürich 2010, S. 96 (Stammbaum).
[4] Freundl. Mitteilung der Eigentümer (2017).
[5] Wertsteigerung von 12‘000 auf 50‘000 Fr. 1893/94 nach: Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938.
[6] Staatsarchiv Graubünden, StAGR CB II 1360 i 02: Findbuch zum Planarchiv Nicolaus Hartmann, S. 31 (freundl. Hinweis der Eigentümer, 2017). Pläne zum Haus haben sich im Archiv gemäss den Angaben im Findbuch nicht erhalten. Zu Nicolaus Hartmann (sen., auch als Nicolaus Hartmann II bezeichnet) vgl. Kristiana Hartmann, Baumeister in Graubünden. Drei Generationen Nicolaus Hartmann, 1850-1950, Chur 2015; Biografisches S. 9-11, zum Hotel „Kulm“ in St. Moritz S. 50-55; Isabelle Rucki / Dorothee Huber (Hrsg.), Architektenlexikon der Schweiz, 19./20. Jahrhundert, Basel 1998, S. 253f.
[7] Freundl. Mitteilung der Eigentümer (2017).
Quellen:- Staatsarchiv Aargau, ZwA 1940.0007/4463, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1829-1850; CA.0001/0413-0417, Brandkataster Gemeinde Lenzburg, 1850-1938.
- Staatsarchiv Graubünden, StAGR CB II 1360 i 02: Findbuch zum Planarchiv Nicolaus Hartmann, S. 31.
- Histor. Aufnahmen bei den heutigen Eigentümern (2017).
- Aargauer Heimatschutz AHS / Aargauer Landschaftsarchitekten BSLA, Inventar der Historischen Gärten und Anlagen des Kantons Aargau, Stadt Lenzburg, LEN-G-019 (Nachbarhaus; histor. Plan).
Reproduktionsbestimmungen:© Kantonale Denkmalpflege Aargau
 

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