INV-BED917 Erstes Atelierhaus Kissling, 1916 (Dossier (Bauinventar))

Archive plan context


Identifikation

Signatur:INV-BED917
Signatur Archivplan:BED917
Titel:Erstes Atelierhaus Kissling
Ansichtsbild:
1/2
Bildlegende:Ansicht von Nordosten (2019)
Bezirk:Baden
Gemeinde:Bergdietikon
Ortsteil / Weiler / Flurname:Holenstrasse
Adresse:Holenstrasse 29
Versicherungs-Nr.:29
Parzellen-Nr.:1397
Koordinate E:2672152
Koordinate N:1247828

Chronologie

Entstehungszeitraum:1916
Grundlage Datierung:Schriftliche Quelle
Nutzungen:1916 Künstleratelier mit Wohnung

Typologie

Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.):Teil einer Baugruppe
Weitere Teile der Baugruppe:BED002
Nutzung (Stufe 1):Profane Wohnbauten
Nutzungstyp (Stufe 2):Atelierhaus

Schutz / Status

Status Bauinventar:Neuaufnahme Bauinventar 2019

Dokumentation

Autorschaft:Ernst Kissling (1890-1973), Bildhauer, Bergdietikon
Inschriften:"zur Mühle", "19 Kissling 16" (Westfassade)
Würdigung:1916 von Bildhauer Ernst Kissling auf der Brandruine einer Mühle errichtetes Atelierhaus, das in landschaftlich reizvoller Lage in der Holenstrasse, einer kleinen Ansiedlung am Zusammenfluss des Rummelbachs mit der Reppisch, steht. Das Gebäude diente dem im Ersten Weltkrieg aus Paris zurückgekehrten Bildhauer, einem Schüler seines bekannten Grossonkels Richard Kissling, bis zu seinem Tod im Jahr 1973 als Wohn- und Arbeitsort. Es dokumentiert Kisslings Schaffen auch mit der von ihm selbst geschaffenen Bauplastik und den ebenfalls selbst entworfenen architektonischen Details und der Umgebungsgestaltung. 1928/29 erbaute Kissling zusammen mit dem befreundeten Architekten Rudolf Steiger, einem der bedeutendsten Vertreter der Schweizer Moderne, ein bemerkenswertes zweites Atelierhaus (Kantonales Denkmalschutzobjekt BED002), das sich auf dem gegenüberliegenden Ufer des Rummelbachs am ehemaligen Mühleweiher erhebt.
Bau- und Nutzungsgeschichte:Das Gebäude geht im Kern auf eine zunächst als Schleife projektierten Getreidemühle zurück, die 1862 für Kaspar Locher eingerichtet wurde [1]. Ein Situationsplan von 1865 zeigt die Anlage kurz nach der Ausführung (vgl. Bilddokumentation): Ein Wuhr im damals noch wild fliessenden Rummelbach leitete das Wasser einem Stauweiher zu, von dem es in einem offenen Kanal zuerst parallel zum Bach und dann mit einer Überquerung auf das Wasserrad floss. Offenbar erbrachte der Betrieb keinen wirtschaftlichen Erfolg, wie mindestens zwei Konkurse und mehrere Handänderungen im ausgehenden 19. Jahrhundert veranschaulichen. 1878 richtete eine Überschwemmung erhebliche Schäden an, worauf man das Bachbett unter dem damaligen Eigentümer Josef Brunner etliche Meter vom Haus weg auf seinen heutigen Lauf verlegte und einen Unterwasserkanal anlegte. Der zuvor offene Zulauf zum Mühlegebäude wurde in geschlossene Zementröhren verlegt (vgl. Bleistiftkorrekturen von 1902 auf dem Situationsplan von 1865). 1912 ging die Liegenschaft an Ernst Hess über, welcher die Mühle zu einer Metallwerkstätte umnutzte und dem 1913 eine Konzession zum Ersatz des Wasserrads durch die heute noch bestehende Francis-Turbine erteilt wurde. Als feuergefährlich wurde im Brandkataster eine wohl zum Schweissen dienende «Acetilengasanlage» erwähnt.
Offenbar nur wenig später brannte die ehemalige Mühle ab, worauf 1915 der Bildhauer Ernst Kissling (1890-1973) die Liegenschaft kaufte und die Brandruine ab 1916 zu einem Atelierhaus ausbaute [2]. In Zürich geboren und bei seinem Grossonkel Richard (1848-1919), einem der bekanntesten schweizerischen Bildhauer seiner Zeit, ausgebildet, war Kissling zunächst in Paris tätig gewesen, von wo er nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1915 in die Schweiz zurückkehrte. Anfänglich beabsichtigte Kissling offenbar, nur die Kriegsjahre in der notdürftig überdeckten Brandruine zu überdauern; schliesslich blieb er mehr als fünfzig Jahre bis zu seinem Tod 1973 in der Holenstrasse, wo er ein einsames und bisweilen abgeschottetes Leben führte. Er schuf vor allem figürliche Skulpturen, Reliefs und Bildnisbüsten in Stein, Holz und Terrakotta, in der er sowohl antike und aussereuropäische als auch abstrakte Bezüge verarbeitete und genoss im früheren 20. Jh. eine durchaus breite Wertschätzung [3].
Nach der mündlichen Überlieferung bestanden von der früheren Mühle im wesentlichen nur noch die Grundmauern, und auch gemäss Angabe im Lagerbuch hatte der «Brandrest» des Gebäudes noch knapp einen Viertel des einstigen Werts. Den Bau des Atelierhauses leitete Kissling selbst, wobei er auch bei der Ausführung Hand anlegte und das Gebäude zudem mit verschiedenen bildhauerischen Arbeiten ausstattete. Die vom Vorbesitzer Hess eingerichtete Turbine mit Generator nutzte er, um eigenen Strom für seine Maschinen zur Steinbearbeitung zu produzieren. Unmittelbar neben dem Haus legte er als Zierelement einen zweiten Weiher an, vielleicht im verlandeten alten Bett des um 1879 verlegten Baches.
1928/29 erbaute Kissling mit dem befreundeten Architekten Rudolf Steiger (1900-1982), einem der wichtigsten Vertreter der Schweizer Moderne, knapp hundert Meter südlich zwischen dem Rummelbach und dem ehemaligen Mühleweiher ein zweites Atelierhaus (Kantonales Denkmalschutzobjekt BED002), das im Unterschied zum hier beschriebenen ersten Atelierhaus ausschliesslich zum Arbeiten eingerichtet war und das er fortan parallel zu diesem nutzte.
1989-2009 waren die beiden Atelierhäuser Wohn- und Arbeitsort des Künstlers Andreas Hofer, durch den Fachkreise insbesondere auf das bemerkenswerte jüngere Atelierhaus von 1929 aufmerksam wurden. 1997 wurde dieses in einer Seminarwoche des Technikums Winterthur untersucht und im Jahr 2000 unter kantonalen Schutz gestellt [4]. Beim hier beschriebenen ersten Atelierhaus von 1916 wurde um 2005 ein nordostseitiger Schopfanbau durch einen mehrheitlich offenen Carport ersetzt. Um 2010 erfolgte eine Renovation des Hauptgebäudes.
Beschreibung:Die beiden sukzessive errichteten Atelierhäuser des Bildhauers Ernst Kissling liegen auf einem grosszügigen Garten- und Waldgrundstück in der Holenstrasse. Der Name der kleinen Ansiedlung leitet sich vom heute noch bestehenden Hohlweg der alten Zürich-Bern-Strasse im nahegelegenen Wald auf der südlichen Talseite her [5]. Das hier beschriebene erste Atelierhaus nimmt entsprechend seiner früheren Funktion als Mühle eine Stelle nahe dem Bachlauf des Rummelbachs am tiefsten Punkt der Talsohle ein. Es handelt sich um einen verputzten Mauerbau, der sich zweigeschossig über längsrechteckigem Grundriss erhebt und ein steiles Satteldach mit markantem Knick und wuchtigen, vergipsten Hohlkehlen trägt. In seiner Gestaltung kombiniert das Gebäude auf originelle Weise Elemente eines Gewerbebaus mit Details, die sich den gestalterischen Ideen des Erbauers verdanken.
Das hohe Erdgeschoss wurde ursprünglich als Werkstatt genutzt und dürfte in seiner Grundanlage noch auf den Mühlebau des späten 19. Jh. zurückgehen. Es wird von grossformatigen Stichbogenfenstern belichtet, deren alte, eiserne Fensterverschlüsse teilweise noch erhalten sind und bei der jüngsten Renovation um neue Fensterverschlüsse auf der Innenseite ergänzt wurden. Ein ehemaliger direkter Eingang in die Erdgeschossräume in der westlichen Achse der Nordfassade wurde gleichzeitig zu einem Fenster reduziert. Das Obergeschoss ist dreiseitig mit kleineren, gleichfalls stichbogigen und gewändelosen Fenstern besetzt. Eigenwillige Akzente setzen eine querformatige, überbreite Stichbogenöffnung an der zum Weiher gerichteten westlichen Stirnseite und zwei parabolische Fensteröffnungen in den beiden Giebeln. Der eigentliche Hauseingang nimmt eine unscheinbare Position im ostseitigen Schopfanbau ein und gibt Zugang zu den Erdgeschossräumen. Das einfache Türblatt hat wohl der Erbauer selbst mit einem spitzbogigen Schmiedeeseingitter versehen. An der von der Zufahrt abgewandten Südseite ist das Dach über eine Laube herabgeschleppt, die über eine ausnehmend lange Freitreppe erreicht wird und Zugang zur Wohnung im Obergeschoss gibt. Die Laube zeigt eine stichbogige Verblendung mit einer an den Kanten in originellen Mustern ausgesägten Verbretterung und einer entsprechenden Brüstung. Die Decke im Laubeninneren zeigt in ähnlicher Art wie die Dachuntersichten eine expressiv geformte Hohlkehle. Ostseitig schliessen an das Haus ein eingeschossiger gemauerter Anbau sowie ein Carport (nicht Bestandteil des Schutzumfangs) an, der in jüngerer Zeit einen hölzernen Schopf ersetzte.
Auffallender künstlerischer Schmuck des Hauses sind zwei Gipsreliefs an der zur Zufahrt gerichteten nördlichen Traufseite. Es handelt sich um Entwürfe für einen Zyklus von Marmorreliefs, die Kissling für den Garten der 1910 erbauten Villa Georg Reinhart in Winterthur schuf [6]. Vielleicht schon mehrfach wurde die Abfolge der Reliefs verändert. Als weitere künstlerische Arbeiten Kisslings sind die Reliefverzierungen an den Fensterbänken der westlichen Stirnseite sowie ein Relief über der Freitreppe an der Südseite zu nennen. Die Fensterbänke der Westfassade tragen im Giebel die Erbauer-Inschrift «Kissling» mit flankierendem Baujahr 1916, im Obergeschoss den Hausnamen «zur Mühle», flankiert von verschiedenen Emblemen aus dem Bereich der Natur und der Landschaft; im Erdgeschoss sind Fische und Wasserpflanzen dargestellt.
In den grossen Erdgeschossräume waren die Maschinen aufgestellt, die Kissling zur Steinbearbeitung nutzte. Knapp unter der Decke sind noch die Öffnungen der durchgehenden Antriebswelle erkennbar. Ein offener Kamin ist am Hut mit Reliefs von Kissling geschmückt. Heute sind die Räume ebenfalls zu Wohnzwecken eingerichtet. In einem kellerartigen Nebenraum im östlichen Bereich steht die bis heute erhaltene, aber nicht mehr funktionsfähige Turbine, die gemäss Aufschrift 1913 von der Firma Vogt & Schaad in Uzwil hergestellt wurde. Die Wohnung im Obergeschoss wird von der südseitigen Laube aus betreten und ist über einen L-förmigen Korridor mit Treppenaufgang ins Dachgeschoss erschlossen. An der Ostseite liegt das Wohnzimmer, das mit dem breiten, panoramaartigen Fenster auf den Weiher und den nahen Waldrand orientiert ist. Darüber liegt im Dachgeschoss das Atelier, das nebst dem Giebellicht von nordseitigen Dachflächenfenstern erhellt wird. Die Oberflächen sind abgesehen von einigen Zimmertüren weitgehend erneuert.
Die landschaftlich reizvolle Umgebung wird durch den nahen Bachlauf und den bewaldeten Hang auf dem gegenüberliegenden Ufer bestimmt. Unmittelbar östlich des Hauses liegt der von Kissling angelegte, zum Haus hin von einer niedrigen Mauer eingefasste Weiher. Ein Fussweg führt nördlich an diesem vorbei in grossem Bogen über den Rummelbach zum archietktonisch bemerkenswerten Atelierhaus von 1929 (Kantonales Denkmalschutzobjekt BED002). Der streng kubisch gestaltete Kleinbau in den Formen des Neuen Bauens erhebt sich dabei in einzigartiger Lage am Waldrand leicht erhöht zwischen dem Bachlauf und dem wenig höher gegenüberliegenden Ufer gelegenen ehemaligen Mühleweiher.
Anmerkungen:[1] Geschichte der Mühle nach StAAG, DB.W01/0006/02 (Projektplan 1862, Aufnahmeplan 1865 mit Ergänzungen von 1902, Verificationsverbal 1902); DB.W01/0060/05 sowie StAAG, Brandkataster Bergdietikon.
[2] Geschichte des Atelierhauses nach: Das Atelierhaus Ernst Kissling, Bergdietikon 1929, Dokumentation zu einer Seminarwoche des TWI Technikum Winterthur, Ingenieurschule, Abteilung für Architektur, 1997 (Kopie Kantonale Denkmalpflege); Limmat-Zeitung 1994; StAAG, DB.W01/0060/05; StAAG, Brandkataster Bergdietikon; freundl. Mitteilungen der Eigentümerin (2019).
[3] Zu Ernst Kissling vgl. SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz: http://www.sikart.ch/kuenstlerInnen.aspx?id=4025627 (Zugriff 10.9.2019); Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts (Vollmer), Leipzig 1953-1962, Bd. III (1956), S. 53; NZZ, 12.8.1970, Morgenausgabe, S. 17.
[4] Akten im Archiv der Kantonalen Denkmalpflege.
[5] Vgl. Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS), AG 26, 26.1, 26.1.3 (1993).
[6] Vgl. https://www.winterthur-glossar.ch/app/default/pub/fw.action/wine.article?ce_id=345&ce_name=Building# (Zugriff 10.9.2019); Schutzwürdige Bauten der Stadt Winterthur, Winterthur 2006, S. 162.
Literatur:- Das Atelierhaus Ernst Kissling, Bergdietikon 1929, Dokumentation zu einer Seminarwoche des TWI Technikum Winterthur, Ingenieurschule, Abteilung für Architektur, 1997 (Kopie Kantonale Denkmalpflege).
- Limmat-Zeitung, 24.11.1994.
Quellen:- Staatsarchiv Aargau (StAAG): DB.W01/0006/02; DB.W01/0060/05, Wasserwerkskonzessionen Bergdietikon.
- Kantonale Denkmalpflege Aargau, Denkmalschutzakten (v.a. zum zweiten Atelierhaus von 1929, Kantonales Denkmalschutzobjekt BED002).
- Staatsarchiv Aargau: CA.0001/0037, Brandkataster Gemeinde Bergdietikon, 1899-1937.
Reproduktionsbestimmungen:© Kantonale Denkmalpflege Aargau
 

URL for this unit of description

URL:http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=135853
 

Social Media

Share
 
Home|Login|de en fr it
Online queries in archival fonds