INV-LEN941 Strafanstalt, 1861-1864 (Dossier (Bauinventar))

Archive plan context


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Identifikation

Signatur:INV-LEN941
Signatur Archivplan:LEN941
Titel:Strafanstalt
Bezirk:Lenzburg
Gemeinde:Lenzburg
Ortsteil / Weiler / Flurname:Untere Wylmatte
Hist. Name Objekt:Justizvollzugsanstalt (JVA)
Adresse:Ziegeleiweg 13
Versicherungs-Nr.:285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292
Parzellen-Nr.:2497
Koordinate E:2655823
Koordinate N:1247832

Chronologie

Entstehungszeitraum:1861 - 1864
Grundlage Datierung:Literatur

Typologie

Objektart (Einzelobj./Teil Baugr./Baugr.):Einzelobjekt
Nutzung (Stufe 1):Öffentliche Bauten und Anlagen
Nutzungstyp (Stufe 2):Strafanstalt, Zuchthaus
Epoche / Baustil (Stufe 3):Historismus

Dokumentation

Autorschaft:Robert Moser (1833-1901), Architekt, Baden
Würdigung:1861-64 nach Plänen des bekannten Badener Architekten Robert Moser errichtete Strafanstalt, die in ihrer Konzeption der damals fortschrittlichen radialen oder „panoptischen“ Bauweise folgt. Der als „Fünfstern“ bezeichnete Bau, den Moser im damals beliebten Rundbogenstil gestaltete, besteht aus einem zehneckigen Zentralbau und fünf sternförmig davon ausgehenden Gebäudeflügeln. Er konnte trotz der notwendigen Anpassung an die gewandelten Anforderungen des Strafvollzugs aussen wie innen im wesentlichen erhalten werden; bemerkenswert sind neben der Grundkonzeption insbesondere auch die zur Überwachung der Sträflinge offenen Innenräume mit ihren eisernen Verbindungsgalerien. Bei ihrer Eröffnung war die Anstalt architektonisch wie vollzugstechnisch das modernste Gefängnis Europas und wurde entsprechend breit beachtet. Neben der Psychiatrischen Klinik in Königsfelden handelt es sich um den wohl bedeutendsten aargauischen Staatsbau aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die seit 2007 als Justizvollzugsanstalt (JVA) bezeichnete Einrichtung ist nach einer 2016 abgeschlossenen Gesamtsanierung hierzulande die einzige noch genutzte Anlage dieses Typs, was ihr eine weit über den Kanton hinausreichende Bedeutung verleiht.
Bau- und Nutzungsgeschichte:Vor dem Bau der Strafanstalt Lenzburg unterhielt der Kanton Aargau Zuchthäuser in der Altstadt von Baden und in der Festung Aarburg [1]. Angesichts der unhaltbaren Zustände, die durch einem Brand des Badener Gefängnisses mit zahlreichen Todesopfern offensichtlich geworden waren, unternahm man eine generelle Reform des Strafvollzugs. 1855 beschloss der Grosse Rat den Bau einer neuen Strafanstalt. Der vom Justizdirektor und nachmaligen Bundesrat Emil Welti präsidierten Strafhausbaukommission gehörten mit Kantonsbaumeister Ferdinand Karl Rothpletz und Architekt Caspar Joseph Jeuch zwei erfahrene Baufachleute an. 1858 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, der eine Strafanstalt für 200 Häftlinge, darunter bis zu 40 Frauen vorsah. Die wichtigsten Vorgaben des Bauprogramms, nämlich ein Gebäude, bestehend aus einem „Mittelbau und Flügeln“, sowie die „Möglichkeit der Beaufsichtigung […] von einem Centralplatz“ aus [2], legten eine radiale Konzeption der Anlage nahe, was im zugehörigen Kommentar mit Beispielen für Fächer- wie auch Strahlenform ergänzt wurde. Im übrigen schenkte man der baulichen Modifizierbarkeit grösste Aufmerksamkeit. Dies spiegelt die Situation, dass bei Formulierung des Bauprogramms noch keine Einigkeit über das künftig anzuwendende Haftsystem herrschte.
Das prominent besetzte Preisgericht, dem u.a. Gottfried Semper und weitere Architekten wie auch Spezialisten des Strafvollzugs angehörten, zeichnete 1858 aus 13 eingereichten Projekten jenes von Robert Moser (1833-1901) mit dem ersten Rang aus. Der damals noch junge Badener Architekt, der praktisch gleichzeitig auch das als „Schällemätteli“ bekannte Basler Gefängnis realisieren konnte, gehört im aargauischen wie auch im schweizerischen Kontext zu den bedeutendsten Vertretern seines Fachs in der zweiten Hälfte des 19. Jh. [3].
Der Bauplatz südlich ausserhalb der Altstadt von Lenzburg wurde unter anderem aufgrund seiner Versorgung mit Frischwasser und des nahegelegenen Steinbruchs gewählt. Während Moser sämtliche Pläne zeichnete und auch die Bauleitung besorgte, lag die Oberaufsicht bei Hochbaumeister Rothpletz [4]. Das überarbeitete Projekt lag 1859 vor. 1861-64 erfolgte die Ausführung. Die Bauarbeiten wurden vom Zürcher Bauunternehmen Locher & Cie. ausgeführt; Gebr. Sulzer in Winterthur lieferten die eisernen Säulen und Unterzüge des Mittelbaus, Ott & Comp. in Bern die Säulen und Unterzüge für die Arbeitssäle. Vom Zürcher Glasmaler Johann Jakob Röttinger bezog man die Verglasung für die Kirche im Kuppelraum.
Bei ihrer Eröffnung 1864 war die Lenzburger Strafanstalt das architektonisch wie vollzugstechnisch modernste Gefängnis Europas. In der Schweiz war dieses Gefängnis die grösste Anlage der als fortschrittlich beurteilten radialen („panoptischen“) Bauweise. Die erste Anlage dieses Typus in der Schweiz war 1825 als zweiflügeliger Bau in Genf entstanden, gefolgt von Lausanne (1826, zweiflügelig) und St. Gallen als dreiflügeliger Anlage (1839). Die zürcherische Strafanstalt Regensdorf (1899-1901) erhielt eine einfache Kreuzform [5]. Entsprechend dem grossen Interesse der Fachwelt publizierte man die Grundrisse der Lenzburger Strafanstalt als Lithographien und festigte so den Ruf des Neubaus als Vorzeigeanstalt. Auch im entsprechenden Band des massgeblichen „Handbuchs der Architektur“ wurde der Bau samt Abbildung dargestellt [6]. In der Geschichte des Strafvollzugs erlangte die Anstalt auch Bedeutung, weil deren erster Direktor, Pfarrer Johann Rudolf Müller, hier das später von der Mehrheit der Kantone und schliesslich auch von der Bundesgesetzgebung übernommene sogenannte „Progressivsystem“ entwickelte. Dieses basierte auf einer Abfolge von Haftbedingungen, die stufenartig von der Isolierhaft über eine Einzelhaft mit Arbeitspflicht zu einer gemeinschaftlichen Beschäftigung – bis hierher immer bei Schweigepflicht – fortschritt und schliesslich in eine bedingte Entlassung unter Überwachung mündete.
Etliche kleinere Veränderungen am Gebäude wurden im Lauf der Jahre sukzessive durch die eigenen Werkstätten für Schreiner-, Maler- und Schlosserarbeiten der Anstalt ausgeführt [7]. 1920 wurden die Spazierhöfe an den beiden hinteren, südlichen Gebäudeflügeln abgebrochen. Eine durchgreifende Erneuerung erfuhren die Zellen, die gemäss dem einem als „Konzept 1957“ bezeichneten Muster zwischen 1960 und 1973 umgestaltet wurden. 1985 wurde der Eingangsbau mit Direktorenwohnung zugunsten eines neuen Mehrzweckgebäudes abgebrochen.
Da es sich um ein kantonseigenes Gebäude handelt, werden Baumassnahmen in der JVA Lenzburg fachlich seit den 1980er Jahren durch die Kantonale Denkmalpflege begleitet, obwohl der Bau nicht unter Kantonalem Denkmalschutz steht. Mit dem 1997 und 2000 beschlossenen neuen Gefängniskonzept des Kantons wurde der Grundsatzentscheid gefällt, die Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg – wie die Anstalt seit 2007 bezeichnet wird – in ihren angestammten, als historisch wertvoll beurteilten Gebäuden weiterzubetreiben. 2004 wurde die Umfassungsmauer ersetzt. Die heutigen Mindestanforderungen an Zellengrössen und -ausstattung, Fenstergrössen und weiteres bedingten einige Anpassungen und Eingriffe in das Gebäude, wobei durch die Zusammenarbeit sämtlicher am Projekt beteiligter Partner gute Lösungen und Kompromisse gefunden werden konnten. Im Rahmen der 2011 in Angriff genommenen Gesamtsanierung erfolgte 2012/13 der Neubau eines Produktionsgebäudes. 2014 entstand abgesetzt vom Altbau ein Gefängnisneubau. 2014-16 erfuhr der Hauptbau („Fünfstern“) eine Erneuerung. Die Zellenfenster, welche den Insassen ursprünglich nur den Blick in den Himmel ermöglichten, wurden nach unten verlängert und mit einer neuen, heutigen Sicherheitsstandards entsprechenden Vergitterung in Anlehnung an den ursprünglichen Zustand verschlossen. Die Zellenausstattung wurde aktuellen Anforderungen angepasst. Durch den Bau eines neuen Produktionsgebäudes wurden ehemalige Arbeitsräume frei und konnten zu anderen Zwecken umfunktioniert werden. Auch konnten durch die Anlage zusätzlicher Wohnflächen in diesen Bereichen die zu geringen Grundflächen der Zellen kompensiert werden. Erhalten wurden zwei Musterzellen im Zustand von 1864 resp. 1957.
Beschreibung:Die Strafanstalt Lenzburg liegt südlich der Stadt in der weitgehend ebenen Talsohle des Aabachs, wo sie sich mit ihrem markanten strahlenförmigen Bau zur Entstehungszeit umso markanter von der damals noch vollkommen unbebauten Umgebung abhob. Der als „Fünfstern“ bezeichnete Hauptbau besteht entsprechend dem im 19. Jh. für den Gefängnisbau propagierten sogenannten „Radialsystem“ aus einem Zentralbau und fünf sternförmig davon ausgehenden Gebäudeflügeln. Abgeschlossen wurde die Anlage ursprünglich von einer regelmässigen fünfeckigen Umfassungsmauer, an deren nördlicher Seite mittig das Portalgebäude lag. Seit 2004 ist die Umfassungsmauer durch eine neue Konstruktion ersetzt, deren unregelmässige Fünfeckform zum Einbezug weiterer Gebäude nach Osten gestreckt ist. In der Grundanlage punktsymmetrisch konzipiert, zeigen die Gebäudeflügel im einzelnen aufgrund ihrer spezifischen Nutzung gewisse Unterschiede.
Das Gebäude ist in einem bereits zitierten Aufsatz von Edith Hunziker beschrieben [8]: „Der zehneckige, mit einem Zeltdach eingedeckte Mittelbau hat einen Durchmesser von 14,40 m. Im unteren, dreigeschossigen Teil besteht er aus einer offenen Zentralhalle, den oberen Teil bildet der überhöhte Kuppelraum. Er ist durch rundbogige Zwillingsfenster akzentuiert und beherbergte ursprünglich die Kirche (seit 1986 unbenutzt). Von der Zentralhalle gehen strahlenförmig vier dreigeschossige Zellentrakte ab (Flügel II-V). Im etwas kürzeren Flügel I ist die Verwaltung untergebracht. Die gleichartigen Männerflügel II und IV sind mit schmalen Arbeitszellen (170 Stück) ausgestattet und schliessen am Ende mit Arbeitssälen. Davor ergänzen gusseiserne Wendeltreppen die Treppenhäuser beim Mittelbau. Von den beiden kürzeren Zellentrakten enthält Flügel III ausschliesslich die breiteren Arbeitszellen (50 Stück), dafür keinen Arbeitssaal. Flügel IV (‚Weiberabteilung‘), der gegen die Zentralhalle mit einer Glaswand abgeschlossen ist, birgt Arbeits- und Schlafzellen; unterschiedlich grosse Arbeitssäle sind im 2. und 3. Stock am Kopfende des Trakts integriert. Im 1. Stock des Mittelbaus besetzt das polygonale verglaste Zentralbüro (‚Pavillon für Oberaufseher und Wachtposten‘) die Mitte, darüber befindet sich eine offene Aufsichtsplattform. Der Erschliessung der oberen Stockwerke der Zentralhalle und der ebenfalls offenen Zellenflügel dienen Galerien.
Trotz des im Bauprogramm gebotenen Verzichts auf ‚Verzierung‘ stattete Robert Moser die bedeutendsten Anlageteile mit dezentem Bauschmuck im damals beliebten Rundbogenstil aus. Das Kuppelgeschoss des Mittelbaus erhielt als Würdeformel für den hier befindlichen Kirchenraum hohe rundbogige Zwillingsfenster; im Wettbewerbsprojekt waren es noch Drillingsfenster gewesen. Das 1985 zugunsten eines Mehrzweckbaus abgebrochene Eingangsgebäude besass einen recht aufwendig instrumentierten Mittelrisalit, und am Obergeschoss kennzeichneten gekuppelte Rundbogenfenster die Direktorenwohnung. Architektonisch steht die gesamte Anlage unverkennbar in der Nachfolge des von Heinrich Hübsch, einem Lehrer Mosers, geplanten Männerzuchthauses Bruchsal.“
Erwähnung in anderen Inventaren:- Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS), nationale Bedeutung, Erhaltungsziel A.
Anmerkungen:[1] Geschichtliches gekürzt nach Hunziker 2017, mit weiterführender Literatur und Hinweisen auf die Archivbestände.
[2] Wettbewerbsprogramm 1858, zit. nach Hunziker 2017, S. 16.
[3] Zu Moser vgl. Isabelle Rucki / Dorothee Huber (Hrsg.), Architektenlexikon der Schweiz, 19./20. Jahrhundert, Basel 1998, S. 387.
[4] Zu Hochbaumeister Rothpletz vgl. Rucki / Huber 1998, S. 458.
[5] Vgl. Hafner 1925, samt Grundrissen der Anstalten von Genf, St. Gallen und Regensdorf (S. 186).
[6] Handbuch der Architektur, 4. Teil, 7. Halb-Band, Heft 1, 1887, S. 369.
[7] Nachträgliche Veränderungen und insbes. die jüngsten Massnahmen nach Nussbaumer 2016.
[8] Hunziker 2017, S. 21. Ausführliche Beschreibungen bei Richner 1952, S. 82-86; Schulthess 2014, S. 78-92.
Literatur:- Edith Hunziker, Die Strafanstalt Lenzburg. Hauptwerk der radialen Gefängnisbauweise in der Schweiz, in: Kunst + Architektur in der Schweiz (k+a), 68. Jg. (2017), H. 3, S. 14-23.
- Reto Nussbaumer, Denkmalpflege hinter Gittern… Vom Korrigieren einer „Corrections-Anstalt“, in: Kunst + Architektur in der Schweiz (k+a), 68. Jg. (2017), H. 3, S. 24-27.
- Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Instandsetzung Fünfsterngebäude, August 2016, Hrsg.: Kanton Aargau, Departement Finanzen und Ressourcen, Immobilien Aargau (im Druck, erscheint 2017).
- Peter M. Schulthess, Damals in „Lenzburg“. Alltag in der Strafanstalt, 1864-2014, Basel 2014.
- Daniel Fink, 150 Jahre Strafanstalt Lenzburg. Elemente eines Darstellungsmodells – ein Werkstattbericht, in: Traverse, 2014, Nr. 1, S. 75-87.
- Thomas Bieli, André Meier, Die Strafanstalt Lenzburg. Ein bau- und rechtsgeschichtliches Monument, Diplomwahlfacharbeit ETH Zürich, Institut für Denkmalpflege, 2001.
- Alte Ansichten von Lenzburg. Gemälde und Grafiken von 1470-1900, hrsg. von der Ortsbürgerkommission der Stadt Lenzburg und der Stiftung pro Museum Burghalde, Aarau 1992, S. 138f. (histor. Ansichten).
- Heinrich Richner, Johann Rudolf Müller. Erster Lenzburger Strafhausdirektor und Pionier des humanen Strafvollzuges. Aarau, Stuttgart 1989.
- Martin Lucas Pfrunder, Die Strafanstalt Lenzburg (Der schweizerische Strafvollzug, Bd. 7). Aarau 1978.
- Heinrich Richner. Die Strafanstalt Lenzburg: mit Berücksichtigung der aargauischen Strafgesetzgebung 1864–1950, Aarau 1952.
- Karl Hafner, Hundert Jahre panoptischer Bauart für schweizerische Strafanstalten, in: Schweizerische Bauzeitung, Bd. 86 (1925), S. 185-187.
- Handbuch der Architektur, 4. Teil, 7. Halb-Band: Gebäude für Verwaltung, Rechtspflege und Gesetzgebung; Militärbauten, Heft 1, Darmstadt 1887, S. 369 (innerhalb des Abschnitts: Gerichtshäuser, Straf- und Besserungsanstalten, verf. von Theodor von Landauer / Eduard Schmitt / Heinrich Wagner; Erstausgabe 1887).
Quellen:- Kantonale Denkmalpflege Aargau, Denkmalschutzakten.
- Staatsarchiv Aargau (StAAG), DB01/0155-0156: Hochbau Strafanstalt Lenzburg, Teile 1 und 2.
- Kantonale Denkmalpflege Aargau, Fotoarchiv.
- http://www.archiv1864.ch/ (Onlinearchiv der JVA Lenzburg).
- ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv: Com_F64-03630; Com_FC01-5600-003 und weitere.
 

Related units of description

Related units of description:siehe auch:
DOK-LEN839.011 Strafanstalt mit Umfassungsmauer (=LEN941), 1861-1864 (Dossier (Dokumentationsobjekte))
 

URL for this unit of description

URL:http://www.ag.ch/denkmalpflege/suche/detail.aspx?ID=39552
 

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